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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

befragten Lehrer und Lehrerinnen, die andere bezieht sich auf die Einschätzung der Glaubwürdigkeit der Betroffenen. Mit 14 Items wird die Sensibilität der Befragten gegenüber der Problematik des sexuellen Mißbrauchs gemessen. Acht Items beziehen sich auf den Bereich Gefährdung. Der BereichPräven­tion wird mit weiteren acht Fragen er­faßt.

Die Erfassung der Sensibilität der In­formanten gegenüber der Problematik des sexuellen Mißbrauchs erfolgte mit einer Likert-Skala.

Unter Sensibilität wird die Feinfühlig­keit bzw. Fähigkeit verstanden, Anzei­chen, Situationen und Handlungen ei­nes sexuellen Mißbrauchs differentiell wahrzunehmen.

Trotz der mittlerweile breiten Diskussi­on der Problematik werden noch oft wichtige Signale der betroffenen Kinder und Jugendlichen übersehen bzw. sexu­eller Mißbrauch als Entstehungsursache für Verhaltensänderungen nicht in Be­tracht gezogen. Sensibilität bedeutet aber auch, feinfühlig mit einem möglichen Verdacht umzugehen, situationsange­paßt zu agieren und nicht in einen blin­den Aktionismus zu verfallen, wie dies leider heute zunehmend geschieht.

In unserer explorativen Studie lag der Fokus der Sensibilitätsmessung auf dem Wahrnehmen von Situationen und Hand­lungen, die auf einen sexuellen Miß­brauch hindeuten. Dazu wurden den Be­fragten u.a. folgende Situationsbeschrei­bungen vorgelegt, die mehr oder weni­ger eindeutig auf einen sexuellen Miß­brauch hinweisen:

Der Vater der achtjährigen Susanne bringt seine Tochter jeden Abend mit einem Zungenkuß zu Bett.

Der Großvater der 15jährigen Bettina kommt häufig unangemeldet ins Badezim­mer, wenn sich seine Enkelin duscht. Herr F. wird jeden Morgen von seiner 13jährigen Tochter geweckt. Zu diesem Zeitpunkt liegt er oft nackt im Bett und befriedigt sich selbst.

Eine Reihe anderer Beschreibungen be­inhaltete Situationen und Handlungen, die einen sexuellen Mißbrauch unter Umständen mehr oder weniger in Erwä­

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gung bringen. Hierzu zählen u.a. die fol­genden Situationsbeschreibungen:

Der 12jährige Mark schläft, seit seine El­tern geschieden sind, mit der Mutter ge­meinsam im Ehebett.

Der 10jährige Matthias faßt seiner sie­benjährigen Schwester beim Spielen wie­derholt in das Unterhöschen.

Herr I. spritzt die Freundinnen seiner sie­benjährigen Tochter bei heißem Wetter immer mit der Gartendusche ab. Die Kin­der sind dabei nackt.

Bei diesen Beschreibungen kommt es wesentlich auf den Kontext an, in dem die Handlungen stehen. So kann z.B. das 0.a. Abspritzen der nackten Kinder völ­lig harmlos sein. Es wäre aber auch denkbar, daß Herr I. diese Situation be­wußt herbeiführt, weil er dadurch sexu­ell erregt wird. In diesem Zusammen­hang soll nicht der Eindruck erweckt werden, daß in jeder erdenklichen Si­tuation Mißbrauch vermutet werden muß. Es muß jedoch gerade von Perso­nen, die mit Kindern und Jugendlichen umgehen, realisiert werden, daß sich so­genanntesubtile Formen sexueller Übergriffe für einen Außenstehenden nicht oder kaum von harmlosen Situa­tionen unterscheiden.

Schließlich beinhalten die insgesamt 14 Beschreibungen auch eine Situation, die nicht als sexuelle Mißbrauchssituation einzuschätzen war:

Die 14jährige Michaela beobachtet ihren Onkel zufällig beim Masturbieren

Die befragten Personen sollten die Si­tuationen im Hinblick auf das Vorlie­gen bzw. die Wahrscheinlichkeit, mit der sexueller Mißbrauch in Erwägung ge­zogen werden kann, einschätzen; dazu stand ihnen eine S-stufige Likert-Skala zur Verfügung. Pro Item waren 1-5 Punkte möglich. Die vorgegebene Ein­schätzungsskala war so angeordnet, daß der Grad der Zustimmung oder Ableh­nung den Grad der Sensibilität für Miß­brauchssituationen von 1-5 Punkten re­präsentiert. Insgesamt konnten somit mindestens 14 und höchstens 70 Punkte erreicht werden.

Zur besseren Übersicht wurde die Ver­teilung der Sensibilitätspunktwerte in

vier Sensibilitätsniveaus klassifiziert. Da auf kein vergleichbares Datenmaterial zurückgegriffen werden konnte, erfolg­te die Einteilung numerisch in vier gleichmächtige Niveaus. NiveauI: 14-27 Punkte, Niveau I: 2841 Punkte, Niveau II: 42-55 Punkte und Niveau IV: 5669 Punkte. Unter der Annahme, daß Personen, die für die Wahrnehmung von Mißbrauchs­situationen und-handlungen hinrei­chend sensibilisiert sind, die acht ein­deutigen Situationen zutreffend einschät­zen und auch einen Teil der wahrschein­lichen Situationen in Erwägung ziehen, wurde die Niveaugrenze für sensibili­sierte Personen auf 42 festgelegt. Somit ergaben sich folgende Sensibili­tätsniveaus: Niveau I(14-27 Punkte): Sehr wenig sensibilisierte Personen Niveau II(2841 Punkte): Wenig sensibilisierte Personen Niveau II(42-55 Punkte): Sensibilisierte Personen Niveau IV(56-69 Punkte): Hochsensibilisierte Personen

Stichprobe: In dieser ersten hypothesen­erkundenen Studie war eine Vollerhe­bung des Lehrpersonals einer Schule für Körperbehinderte geplant.

Insgesamt wurden 70 Fragebogen ver­teilt. 26 Fragebogen wurden ausgefüllt zurückgegeben. Die Rücklaufquote lag somit bei nur 37%.

Die Datenverarbeitung erfolgte mit dem Computerprogramm SPSS/PC+(Sta­tistical Package for the Social Science) Version 3.0. Die angegebenen Prozent­werte beziehen sich stets auf die Anzahl der Informanten, die das jeweils auszu­wertende Item beantwortet haben(valid percent).

Ergebnisse der Befragung

Informationsstand: Nahezu alle Befrag­ten haben bereits etwas über sexuellen Mißbrauch von Kindern und Jugendli­chen gehört. Nur eine Person gibt an, über das Thema nicht informiert zu sein. 23% der Befragten sind durch betroffe­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995