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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen

blematik sexuellen Mißbrauchs kon­frontiert wurde und zwei Drittel der Befragten sexuell mißbrauchte Schü­lerinnen oder Schüler an ihrer Schu­le kennen, hat diese unmittelbare Konfrontation nicht zu einer tiefer­gehenden Beschäftigung mit der The­matik geführt: Nur rund ein Fünftel der Befragten hat eine Fortbildungs­veranstaltung zum sexuellen Miß­brauch besucht.

. Die Mehrzahl der Befragten(71%) ist für das Problemfeld des sexuellen Mißbrauchs sensibilisiert; 17% der Befragten erwiesen sich als wenig sen­sibilisiert, nur 13% der Befragten kön­nen als hoch sensibilisiert eingestuft werden.

Mit dieser Verteilung zeigen die be­fragten Pädagoginnen und Pädagogen eine hinreichende Sensibilisierung; unter sonderpädagogisch Tätigen hät­te allerdings auch eine etwas höhere Sensibilisierung erwartet werden kön­nen.

Unseres Erachtens ist es für Pädago­ginnen und Pädagogen immens wich­tig, sich mit problematischen und kri­tischen Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen. Diese Personengruppe verbringt den weitaus größten Teil des Tages mit den Kindern und Jugendlichen, so daß sie zum einen eher als andere Be­zugsgruppen auf Probleme der Kin­der und Jugendlichen aufmerksam werden kann, und zum anderen er­heblich mehr Interventions- und Prä­ventionsmöglichkeiten besitzt. Wenn Lehrerinnen und Lehrer im Bereich des sexuellen Mißbrauchs nicht hoch sensibilisiert sind, dann bestehen nur wenig Chancen, sexuellem Mißbrauch vorzubeugen, ihn zu erkennen und auch beenden zu können. Unter die­sen pädagogischen Gesichtspunkten hätten bessere Ergebnisse im Sensibi­

Literatur

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Aiello, D.(1986). Issues and concerms confronting disabled assault victims: Strategies for treatment and prevention. Sexuality and Disability, 3-4, 96

Ammerman, R.T., Hasselt, V.B. van& Hersen, M.(1988). Maltreatment of handicapped children. A critical review. Journal of Family Violence, 1, 53­

litätsniveau erzielt werden müssen. Die Hälfte der Befragten würde dem Schüler oder der Schülerin vorbe­haltlos glauben, wenn diese von ei­nem sexuellen Übergriff berichteten. Dies kann unseres Erachtens sowohl auf einen eher niedrigen Informa­tionsstand bei den Befragten hinwei­sen(immerhin handelt es sich nach ODay 1983 in lediglich 2% aller an­gezeigten Fälle sexuellen Mißbrauchs um Falschmeldungen) als auch als mangelnde Sensibilität bzw. Unsi­cherheit im Umgang mit der Proble­matik gewertet werden.

. Die meisten der Befragten(70%) se­

hen körperbehinderte Menschen als gefährdet an, sexuell mißbraucht zu werden. Dabei werden Personen mit schweren körperlichen Behinderun­gen gegenüber Personen mit leichte­ren Behinderungen tendenziell als stärker gefährdet eingeschätzt. Am stärksten wird die Gefährdung von pflegebedürftigen Körperbehinderten und von Körperbehinderten mit in­tellektuellen und/oder kommunika­tiven Beeinträchtigungen eingestuft. Dies könnte zunächst als Widerspruch zu der Auffassung interpretiert wer­den, daß körperbehinderte Personen als Sexualpartner wenig attraktiv sei­en. Dies gilt jedoch nicht, insofern offensichtlich Macht und leichtere Verfügbarkeit schwerer behinderte Personen öfter zu Opfern sexueller Gewalt werden lassen.

Solche Gefährdungsfaktoren wie Ab­hängigkeitsverhältnisse, Pflegebedürf­tigkeit und damit gegebener Aufhe­bung intimer Schranken werden von den Befragten erkannt.

. Präventivarbeit wird von den befrag­

ten Pädagoginnen und Pädagogen für notwendig gehalten. Es besteht jedoch eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Aussage, daß Präventivarbeit not­

wendig sei und ihrer tatsächlichen Umsetzung im Unterricht. 70% der Befragten fühlen sich für die Durch­führung von Präventivmaßnahmen nicht genügend ausgebildet bzw. in­kompetent und überfordert.

Vor dem Hintergrund, daß erste epi­demiologische Daten auf ein hohes Maß sexueller Gewalt gegenüber kör­perbehinderten Personen hinweisen, ist zunächst eine empirische Ab­sicherung durch weitergehende Un­tersuchungen zur Vorkommenshäu­figkeit sexuellen Mißbrauchs bei kör­perbehinderten Menschen erforder­lich; wegen des wahrscheinlich er­schreckend hohen Ausmaßes sexuel­len Mißbrauchs ist allerdings mit der Präventivarbeit nicht zu warten; sie muß sensibel konzipiert werden. Zu­nächst gilt es, die Ängste und Vorur­teile, die im Umgang mit dieser The­matik zweifellos bestehen, aufzuarbei­ten. Darauf aufbauend ist es wichtig, daß Pädagoginnen und Pädagogen informiert und für die Wahrnehmung sexuellen Mißbrauchs sensibilisiert werden. Sexueller Mißbrauch besteht nach unserem aufgezeigten Verständ­nis nicht nur in direkten Körperkon­takten und Vergewaltigung, sondern muß auch in psychisch gewaltsamen Handlungen gesehen werden, auch wenn diese ohne direkten Körper­kontakt vonstatten gehen.

Insgesamt sind die besonderen gefähr­denden Faktoren durch die Abhän­gigkeit, intime Pflege und Hilfelei­stungen bei schwerbehinderten Schü­lerinnen und Schülern zu erkennen. Auf der Basis dieser Erkenntnisse und gewonnener Einsichten in das Bedin­gungsgefüge gefährdender Faktoren werden sich adäquate Handlungs­strategien für alle Beteiligten im Um­gang mit dem sexuellen Mißbrauch weiterentwickeln lassen.

Ammerman, R.T., Hasselt, V.B. van, Hersen, M., McGonigle, J.J.& Lubetsky, M.J.(1989). Abuse and neglect in psychiatrically hospitalized multi­

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335-343.

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995

Bange, D.(1989a).Es hätte mir ja sowieso keiner geglaubt: Sexuell miß­

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