Angela Carell und Christoph Leyendecker- Zum Problem des sexuellen Mißbrauchs von körperbehinderten Menschen
Schwere Beeinträchtigung
Leichte Beeinträchtigung
Abb. 3: Einschätzung der Gefährdung von schwerer vs. leichter beeinträchtigten körperbehinderten
Menschen
derten Menschen zeigt einen tendenziellen Unterschied; dies weist darauf hin, daß schwerer beeinträchtigte Menschen als stärker gefährdet angesehen werden.
Als gefährdende Faktoren werden von 83% der Informanten Abhängigkeitsverhältnisse angeführt. Noch deutlicher fällt die Einschätzung situativer Gefährdungsfaktoren aus: 96% halten körperbehinderte Menschen für gefährdet, weil sie vermehrt Situationen ausgesetzt sind, in denen es zu Übergriffen kommen kann. Eine Gefährdung durch Unterbringung in Sondereinrichtungen wird von den meisten Informanten nicht gesehen.
76% der Befragten stimmen der Behauptung zu, daß körperbehinderte Menschen häufig nicht in der Lage sind, Mißbrauchssituationen zu erkennen. Als wesentlichste Begründungen werden häufige Berührungen und Eingriffe in die Intimsphäre behinderter Menschen genannt.
Weniger als die Hälfte der Befragten (44%) stimmten der Behauptung zu, daß sexueller Mißbrauch von behinderten Menschen nur selten aufgedeckt wird. Die Ursachen werden hier hauptsächlich auf eventuell vorliegende intellektuelle und kommunikative Beeinträchtigungen zurückgeführt sowie darauf, daß Körper
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behinderten die für einen solchen Bericht notwendigen verbalen Ausdrücke nicht zur Verfügung stehen.
Prävention: Präventivarbeit im Hinblick auf den sexuellen Mißbrauch von körperbehinderten Menschen halten 67% der Befragten für uneingeschränkt notwendig. 21% erachten Präventivarbeit für notwendig, können sich aber nicht vorstellen, wie eine solche Arbeit aussehen soll.
Präventivarbeit wird von allen Informanten in der eigenen Arbeit für wichtig erachtet. 70% fühlen sich jedoch dafür nicht genügend ausgebildet bzw. inkompetent und überfordert. Diese negative Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zeigt sich auch bei der Behandlung der Thematik im Unterricht: Lediglich 37% der Informanten geben an, dieses Thema im Unterricht behandelt zu haben. Die durchgeführten Maßnahmen— über verschiedene Gefühle sprechen, Begriffe für Geschlechtsteile einüben— werden auch in der„Präventiv-Literatur“ als wichtig eingestuft. Andere wesentliche Maßnahmen— beispielsweise für jeden einzelnen Schüler zu überlegen, an wen er sich wenden kann— wurden im Unterricht in der Regel nicht besprochen. Auf schulorganisatorischer Ebene wurden nach Angaben der Informanten ver
schiedene Maßnahmen besprochen bzw.
beschlossen, die zu einer Verringerung
gefährdender Faktoren beitragen können.
Genannt wurden in diesem Zusammen
hang:
— besondere Sorgfalt bei Toilettengängen;
— Offenheit;
— Information aller am Schulleben beteiligten Personen;
— Fortbildungsmaßnahmen/Seminare für das Kollegium;
— Information für Eltern und Lernende über die Mißbrauchsproblematik;
— Pflegeleistungen sollten nicht von einer einzelnen Person durchgeführt werden;
— Pflegepersonen und zu pflegende Person sollten gleichen Geschlechts sein;
— körperbehinderte Schüler sollten möglichst von den gleichen Personen gepflegt werden;
— verstärkte Pausenaufsichten;
— schon beim Verdacht Aufsuchen einer Vertrauensperson.
Bestimmte Vertrauenspersonen für Lernende und Lehrende bzw. für das therapeutische Fachpersonal werden nicht genannt. Materialien für die Präventivarbeit werden den Lehrenden durch die Schule nicht zur Verfügung gestellt.
Interpretation der Ergebnisse
Unsere hypothesenerkundene Studie zur Erfassung der Sensibilität von Pädagogen und Pädagoginnen zum sexuellen Mißbrauch körperbehinderter Menschen beruht auf einer kleinen anfallenden
Stichprobe. Dennoch möchten wir an
dieser Stelle erste hypothetische Aussa
gen formulieren, die Gegenstand weiterer Untersuchungen sein können:
1. Zunächst kann angenommen werden, daß sich an unserer Befragung vorwiegend solche Personen beteiligt haben, die im Hinblick auf den sexuellen Mißbrauch körperbehinderter Menschen ein entsprechendes Problembewußtsein besitzen. Trotzdem weist der Informationsstand von Pädagoginnen und Pädagogen Defizite auf. Obgleich ein Viertel mit der Pro
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 2, 1995