Thomas Rammsayer- Individuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung
der Leseleistung betrifft— als eine Teilmenge der durch die Reaktionszeit repräsentierten Funktionen betrachtet werden muß. Im Vergleich zur Reaktionszeit stellt die visuelle Wahrnehmungsspanne ein sehr viel spezifischeres Maß zur Erfassung der sensorischen Informationsverarbeitungsleistung dar, weil die Reaktionszeit auch noch weitere, nachfolgende Verarbeitungsschritte wie beispielsweise die Stimulus-Evaluation und Antwortselektion umfaßt, die über die rein sensorische Verarbeitung hinausgehen. Ein insgesamt vergleichbares Bild ergibt sich für die Gruppe der Lern- und geistig Behinderten. Auch hier konnten signifikante zusätzliche Beiträge zur Varianzaufklärung der Leseleistung durch die sukzessive Hinzunahme des„Buchstaben-Nachsprechens ‚vorwärts‘‘“ und der Reaktionszeit als Prädiktorvariablen in Höhe von 23.2% bzw. 7.6% belegt werden. Da, wie oben beschrieben, für die Gruppe der Grundschüler die einzelnen kognitiven Variablen keinen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Leseleistung lieferten, konnte auch im Rahmen der schrittweisen multiplen Regressionsanalysen— im Gegensatz zur Gesamtstichprobe und zur Gruppe der Lernund geistig Behinderten— nicht mit signifikanten Ergebnissen gerechnet werden. Um zu überprüfen, ob die bedeutsamen Beiträge des„Buchstaben-Nachsprechens ‚vorwärts‘‘“ und der Reaktionszeit zur Vorhersage der Leseleistung bei der Gruppe der Lern- und geistig Be
Literatur
hinderten lediglich ein Artefakt der im Vergleich zur Gruppe der Grundschüler extrem großen Streuung der Leseleistung darstellt, wurde eine weitere Regressionsanalyse für eine reduzierte Teilstichprobe der Lern- und geistig Behinderten gerechnet. Hierbei wurden die zehn Versuchspersonen mit der niedrigsten Syntheseleistung aus der Analyse ausgeschlossen, wodurch eine Streuungsreduktion in der Variable„Leseleistung“ um über 40% von 21.1 auf 12.6 Rohwertpunkte für die Gruppe der Lernund geistig Behinderten erzielt wurde. Auch in dieser um zehn Versuchspersonen reduzierten Stichprobe ergab die schrittweise multiple Regressionsanalyse einen substantiellen zusätzlichen Beitrag zur Varianzaufklärung der Leseleistung durch die sukzessive Hinzunahme der Prädiktorvariablen„BuchstabenNachsprechens ‚vorwärts‘“ in Höhe von 22.8% und„Reaktionszeit“ in Höhe von 11.1%. Dieses Ergebnis spricht gegen die Annahme, daß es sich bei den für die Gruppe der lern- und geistig behinderten Versuchspersonen aufgezeigten Zusammenhängen zwischen der Leseleistung und der visuellen seriellen Kurzzeitgedächtnisspanne bzw. der visuellen Informationsverarbeitungskapazität, wie sie durch die Reaktionszeit repräsentiert wird, um reine Streuungsartefakte handelt.
Schlußfolgerungen
Offensichtlich haben elementare kognitive Prozesse der visuellen Informationsverarbeitung für die Leseleistung von Lern- und geistig Behinderten eine sehr viel größere Relevanz als für die Leseleistung von Nicht-Behinderten. Eine solche differentielle Bedeutung grundlegender visueller kognitiver Prozesse sollte bei der Entwicklung von Fördermaßnahmen berücksichtigt werden. Wenn beispielsweise— im Gegensatz zu den Grundschülern— für die Gruppe der Lern- und geistig Behinderten ein Zusammenhang zwischen Kurzzeitgedächtnis- und Leseleistung nachgewiesen werden kann und wenn man gleichzeitig berücksichtigt, daß Leistungsbeeinträchtigungen des Kurzzeitgedächtnisses den Leseschwierigkeiten zeitlich vorauszugehen scheinen(Jorm, Share, MacLean & Matthews 1984; Mann& Liberman 1984), besteht hier die Möglichkeit, über gezielte Interventionen, die eine Verbesserung der Kurzzeitgedächtnisleistung bewirken, auch eine Verbesserung der Leseleistung zu erreichen. In dieser Hinsicht machen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung nicht nur deutlich, daß man bei behinderten und nichtbehinderten Menschen von unterschiedlichen Ursachen einer Lesestörung ausgehen muß, sondern daß auch in Abhängigkeit davon jeweils unterschiedliche angemessene Interventionsstrategien abgeleitet werden können.
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