Thomas Rammsayer- Interindividuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung
zwei Verarbeitungsschritten, die auf einer relativ frühen Stufe der Informationsverarbeitung auftreten, die primäre Bedeutung zu. Auch die Leistung bei der visuellen Wahrnehmungsspanne, die mit 7.9% ebenfalls einen bedeutsamen Varianzanteil der intelligenzunabhängigen Leseleistung in der Gesamtgruppe aufklärt, repräsentiert einen frühen sensorischen Informationsverarbeitungsprozeß, der dem ikonischen Gedächtnis (Neisser 1967) zugeschrieben wird. Bei solchen grundlegenden Prozessen wie der visuellen Merkmalsanalyse oder der visuellen Segmentierung in Verarbeitungseinheiten, spielt das ikonische Gedächtnis eine entscheidende Rolle. Sowohl die Merkmalsanalyse als auch die Segmentierung stellen wichtige Operationen im Rahmen der Funktionsanalyse des Lesens nach Scheerer-Neumann (1977) dar. In einem Übersichtsartikel kommt Stanovich(1985) allerdings zu dem Schluß, daß, je mehr man im Rahmen der Leseforschung versucht, mit hoch spezifischen Testaufgaben die visuelle sensorische Informationsverarbeitung zu untersuchen, der Zusammenhang zwischen der untersuchten Funktion und der Leseleistung um so schwächer wird. Aus diesem Grund bezweifelt Stanovich(1985), daß sich unterschiedliche Leseleistungen durch Defizite auf der Basis von spezifischen Funktionen der sensorischen Informationsverarbeitung befriedigend erklären lassen. Allerdings schränkt er diese Aussage auf den Bereich der nicht lern- oder geistig behinderten Menschen ein. Die regressionsanalytischen Ergebnisse, die auch im Hinblick auf die Prädiktorvariablen „Reaktionszeit“ und„Wahrnehmungsspanne“ für die Gruppe der Grundschüler negativ ausfielen, stützen Stanovichs Sichtweise. Während für die Gruppe der lern- und geistig behinderten Versuchspersonen die Prädiktorvariable„Reaktionszeit“ einen intelligenzunabhängigen Varianzanteil der Leseleistung von über 10% erklärt, trägt die Prädiktorvariable „Wahrnehmungsspanne“ nicht zur Erklärung der Leseleistung bei. Dies könnte damit zusammenhängen, daß visuelle Informationsverarbeitungsprozesse, wie sie mittels Aufgaben mit einer sehr kur
zen Darbietungszeit(wie beispielsweise beim SoA-Test) erfaßt werden, bei Lernund geistig Behinderten im Vergleich zu Nicht-Behinderten generell beeinträchtigt zu sein scheinen(Belmont& Butterfield 1969; Ellis 1970; Spitz 1973; Thor& Holden 1969). Eine solche Leistungsbeeinträchtigung, die möglicherweise durch eine leichte neurologische Schädigung bedingt ist, wäre damit eher als ein Indikator für die generelle neuronale Effizienz der Lern- und geistig Behinderten im Sinne von Jensen(1982) oder Vernon(1981) zu betrachten, die nicht ursächlich mit Leseschwierigkeiten in Verbindung steht(Hulme 1987).
Im Gegensatz zur Reaktionszeit leistet die Fehlerzahl bei der Reaktionszeitaufgabe weder für die Gesamtstichprobe noch für die beiden Untersuchungsgruppen einen Beitrag zur Varianzaufklärung der Leseleistung. Dies kann darauf zurückgeführt werden, daß insgesamt nur sehr wenige Fehler gemacht wurden und sich die Lern- und geistig Behinderten auch nicht in ihrer Fehlerzahl von der Gruppe der Grundschüler unterschieden. Im Hinblick auf das angewandte Reaktionszeitparadigma bedeutet dies, daß die Aufgabenschwierigkeit auch für die Lern- und geistig Behinderten nicht zu hoch war und somit die gemessenen Reaktionszeiten tatsächlich die Geschwindigkeit zeitkritischer Informationsverarbeitungsprozesse und nicht beispielsweise Unterschiede im Instruktionsverständnis zwischen den beiden Untersuchungsgruppen widerspiegeln.
Gesamtbeitrag zur Erklärung der Leseleistung durch eine Kombination der untersuchten kognitiven Variablen
Abschließend stellt sich die Frage, inwieweit die untersuchten kognitiven Variablen in der Lage sind, einen voneinander unabhängigen Beitrag zur Erklärung der Leseleistung zu liefern. Wenn die Variablen„Buchstaben-Nachsprechen ‚vorwärts‘“,„Buchstaben-Nachsprechen ‚rückwärts‘“ und„Reaktionszeit“ tat
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995
sächlich voneinander relativ unabhängige Determinanten der Leseleistung repräsentieren, wäre zu erwarten, daß durch eine Kombination dieser Variablen ein deutlich größerer Varianzanteil der Leseleistung aufgeklärt wird als durch eine einzelne dieser Variablen alleine. Werden diese drei Variablen zusätzlich zur Intelligenz schrittweise zur Vorhersage der Leseleistung so kombiniert, daß jeweils diejenige kognitive Variable neu hinzugenommen wird, die den höchsten Zuwachs an erklärter Varianz liefert, zeigt sich für die Gesamtstichprobe, daß das„Buchstaben-Nachsprechen ‚vorwärts‘“ einen zusätzlichen Anteil von 20% zur Varianzaufklärung beiträgt. Durch die weitere Hinzunahme der Reaktionszeit können rund weitere 10% der Varianz der Leseleistung erklärt werden, wohingegen durch die Hinzunahme des„Buchstaben-Nachsprechens ‚rückwärts‘“ nur noch knapp 3% zusätzliche Varianz erklärt werden kann. Dieses Ergebnis belegt ,‚ daß durch das „Buchstaben-Nachsprechen ‚vorwärts‘“ andere kognitive Funktionen, nämlich wie bereits oben erwähnt Kurzzeitgedächtnisprozesse im Sinne der seriellen Gedächtnisspanne, repräsentiert werden als durch die Reaktionszeitaufgabe, die in erster Linie Aspekte der sensorischen Reizverarbeitung widerspiegelt. Da man davon ausgehen kann, daß dem„Buchstaben-Nachsprechen ‚vorwärts‘“ und dem„Buchstaben-Nachsprechen ‚rückwärts‘“ weitgehend sehr ähnliche kognitive Prozesse zugrunde liegen, ist es nicht überraschend, daß durch die Hinzunahme des„Buchstaben-Nachsprechens ‚rückwärts‘“ kein allzu großer zusätzlicher Varianzanteil der Leseleistung aufgeklärt werden kann. Darüber hinaus zeigte sich bei der schrittweisen Kombination der Prädiktorvariablen innerhalb der Gesamtstichprobe, daß durch die visuelle Wahrnehmungsspanne keine weitere Varianz der Leseleistung aufgeklärt werden konnte, wenn zuvor die Reaktionszeit als Prädiktorvariable bereits in die Analyse aufgenommen worden war. Dieses Ergebnis weist darauf hin, daß die durch die Wahrnehmungsspanne repräsentierte Funktion— zumindest soweit sie den Zusammenhang mit
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