Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
138
Einzelbild herunterladen

analysen für die Gruppe der Grund­schüler und die Gruppe der Lern- und geistig Behinderten, zeigt sich, daß die­se Kurzzeitgedächtnisfunktion bei den Grundschülern praktisch keinen Zusam­menhang mit der Leseleistung aufweist, wohingegen bei der Gruppe der Behin­derten die serielle visuelle Gedächtnis­spanne über 20% der intelligenzunab­hängigen Leseleistung aufzuklären ver­mag. Auch in der einschlägigen Litera­tur wird die Befundlage zur Bedeutung des Kurzzeitgedächtnisses für die Lese­leistung bei nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen sehr kontrovers dis­kutiert. Während in einigen Untersu­chungen kein Zusammenhang zwischen Leseleistung und der Gedächtnisspanne gefunden wurde(z.B. Das& Mishra 1991; Vellutino, Pruzek, Steger& Me­shoulham 1973), berichten andere einen positiven Zusammenhang zwischen Le­seleistung und der Kurzzeitgedächt­nisleistung(z.B. Cohen& Netley 1978; Hulme 1981; Jorm 1983; Koppitz 1973; Wiig& Roach 1975; Senf& Freundl 1972). Ebenso ist ungeklärt, worin die kritische Bedeutung des Kurzzeitge­dächtnisses für den Leseprozeß besteht. Während Jorm(1979) davon ausgeht, daß Leseschwierigkeiten dadurch ent­stehen, daß Buchstaben oder Wörter nicht im Kurzzeitgedächtnis gehalten werden können, vertreten beispielswei­se Corkin(1974) und Torgeson(1978) die Auffassung, daß Leseschwierigkeiten aus der Unfähigkeit, Reihenfolgeinfor­mation im Kurzzeitgedächtnis zu spei­chern, resultieren. Auch die Möglich­keit, daß sowohl die Kurzzeitgedächtnis­als auch die Leseleistung von einer Dritt­variable abhängig sind, findet in zuneh­mendem Maße Berücksichtigung. Als potentielle Drittvariable kommen hier­bei insbesondere linguistische und pho­nologische Prozesse in Frage(Bradley & Bryant 1983; Byrne 1981; Cohen& Netley 1981; Cohen, Netley& Clarke 1984; Godfrey, Syrdal-Lasky, Millay& Knox 1981; Morais, Allegria& Content 1987; Rapala& Brady 1990). Die Er­gebnisse der vorliegenden Untersuchung stützen am ehesten die Auffassung von Corkin(1974) und Torgeson(1978), nach der Defizite bei der Verarbeitung

138

Thomas Rammsayer- Individuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung

von Reihenfolgeinformation im Kurz­zeitgedächtnis zu Leseschwierigkeiten führen. Ein Vergleich der seriellen Re­produktionsleistung beim Buchstaben­Nachsprechen ergibt für die Gesamt­stichprobe eine signifikant bessere Lei­stung beim Vorwärtsreproduzieren mit durchschnittlich 3.5 Wörter gegenüber 2.9 Wörtern beim Rückwärtsreproduzie­ren[1(75)= 5.81, p<.001]. Vergleich­bare Ergebnisse lassen sich auch für die beiden Teilstichproben belegen. Würden Lesestörungen, wie von Jorm(1979) ver­mutet, dadurch bedingt sein, daß Buch­staben und Wörter von schlechteren Le­sern generell nicht im Kurzzeitgedächt­nis gehalten werden können, wäre zu erwarten, daß dieser Effekt zumindest bei der Gruppe der lern- und geistig behinderten Versuchspersonen, die ja eine deutlich schlechtere Leseleistung aufweist als die Gruppe der Grundschü­ler, zu sehr ähnlichen Reproduktionslei­stungen unter derVorwärts- und der Rückwärts-Instruktion führen müßte, weil die Buchstaben nicht genügend lan­ge im Kurzzeitgedächtnis zur Verfügung stehen, was sich sehr viel eher leistungs­begrenzend auswirken sollte als die Vorwärts- bzw. dieRückwärts-In­struktion. Aus den Ergebnissen der Grup­pe der Lern- und geistig Behinderten ergibt sich aber eher eine gegenläufige Tendenz, daß nämlich der Leistungs­unterschied zwischen Vorwärts- und Rückwärtsproduktion im Vergleich zur Gruppe der Grundschüler eher noch zu­nimmt. Ein solches Ergebnis, ist aber insbesondere dann zu erwarten, wenn primär die Verarbeitung von Reihen­folgeinformation im Kurzzeitgedächtnis bei Menschen mit Leseschwierigkeiten beeinträchtigt ist.

Ergebnisse von Bryant& Bradley(1985) legen darüber hinaus nahe, daß ein Zu­sammenhang zwischen Kurzzeitgedächt­nis- und Leseleistung insbesondere bei nichtbehinderten Kindern sehr viel wahrscheinlicher mit Hilfe von Längs­schnittstudien belegbar ist als bei einer querschnittlichen Betrachtung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dies könnte er­klären, warum in der vorliegenden Un­tersuchung die visuelle Gedächtnisspan­ne keinen signifikanten Beitrag zur Vor­

hersage der Leseleistung der Grund­schüler lieferte. Insofern kann man Hu­me(1987) zustimmen, der davon aus­geht, daß in Bezug auf nichtbehinderte, also auch dyslektische Kinder die Vor­stellung, daß die Kurzzeitgedächtnis­leistung mit Leseschwierigkeiten ursäch­lich in Zusammenhang stehe, weit da­von entfernt ist, als bestätigt betrachtet werden zu können. Der signifikante Zu­sammenhang zwischen Leseleistung und Gedächtnisspanne bei der Gruppe der Behinderten könnte darauf zurückgeführt werden, daß bei den lern- und geistig behinderten Versuchspersonen sowohl von einer insgesamt schlechteren Ge­dächtnisspanne als auch von einer grö­Bßeren Variabilität im Vergleich zu den Grundschülern ausgegangen werden muß. Offensichtlich stellt dieses niedri­gere Leistungsniveau in der Gedächtnis­spanne ein sehr massives Leistungsde­fizit dar, das grundlegende Funktionen des Leseprozesses deutlich beeinträch­tigt, während die natürliche Variation in der Gedächtnisspanne wie sie bei den Grundschülern zu beobachten ist, keine negativen Konsequenzen für den Lese­prozeß bewirkt.

Einfluß von Informations­verarbeitungsprozessen im Rahmen der Mehrfach-Wahl-Reaktions­zeitaufgabe und des visuellen Auffassungsumfangs

auf die Leseleistung

Neben den seriellen Kurzzeitgedächtnis­prozessen, wie sie mit Hilfe des Buch­staben-Nachsprechens erfaßt wurden, lie­fert auch die Reaktionszeit einen signi­fikanten Beitrag in Höhe von 15.9% zur Varianzaufklärung der intelligenzunab­hängigen Leseleistung in der Gesamt­gruppe. Die relevanten kognitiven Pro­zesse im Rahmen der Reaktionszeitauf­gabe erstrecken sich in erster Linie auf präattentive Prozesse, die Reizanalyse sowie die Antwortselektion und können damit als weitgehend unabhängig vom Kurzzeitgedächtnis betrachtet werden. Wahrscheinlich kommt im Zusammen­hang mit der Leseleistung den präten­tiven Prozessen und der Reizanalyse, also

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995