Thomas Rammsayer- Interindividuelle Differenzen der visuellen Informationsverarbeitung
Varianz gewährleistete. Auf diese Weise ließ sich für die Gesamtstichprobe ein Anteil an erklärter Varianz von 55.3% erzielen, wobei jede der zusätzlichen Prädiktorvariablen noch einen signifikanten Zuwachs an erklärter Varianz leistete. Bei den lern- und geistig behinderten Versuchspersonen wurde durch die drei Prädiktorvariablen„Intelligenz‘“,„Buchstaben-Nachsprechen: Vorwärts“ und„Reaktionszeit“ ein Varianzanteil von 42.6% der Leseleistung aufgeklärt. Die Hinzunahme der vierten Prädiktorvaria-ble„Buchstaben-Nachsprechen: Rückwärts“ erbrachte keinen weiteren signifikanten Zuwachs an erklärter Varianz. Ein völlig anderes Bild ergab sich für die Gruppe der Grundschüler. Hier waren die drei Prädiktorvariablen, die bei den Lern und geistig Behinderten über 40% der Varianz der Leseleistung erklären konnten, lediglich in der Lage, einen Varianzanteil von 14.3% aufzuklären. Auch ein statistisch bedeutsamer Zuwachs an aufgeklärter Varianz konnte für keine der Prädiktorvariablen belegt werden.
Diskussion
Insgesamt betrachtet belegen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, daß sowohl Aspekte der visuellen sensorischen Informationsverarbeitung als auch die visuelle serielle Gedächtnisspanne bei den lern- und geistig behinderten Versuchspersonen deutlich schlechter ausgeprägt sind als bei der Gruppe der Grundschüler. Im Folgenden soll deshalb nicht nur die generelle Frage diskutiert werden, inwieweit die untersuchten Funktionen der visuellen Informationsverarbeitung einen von der Intelligenz unabhängigen Beitrag zur Vorhersage der Syntheseleistung zu liefern in der Lage sind, vielmehr soll auch die differentielle Bedeutung dieser kognitiven Variablen für die Gruppe der Grundschüler und die Gruppe der lern- und geistig behinderten Versuchspersonen im Zentrum der weiteren Überlegungen stehen.
Tab. 5: Aufgeklärte Varianz(R?) der Syntheseleistung durch schrittweise Kombination der Prädiktorvariablen„Intelligenz“(A),„Buchstaben-Nachsprechen: Vorwärts“(B), Reaktionszeit(C)
und„Buchstaben-Nachsprechen: Rück wärts‘““(D)
Gesamtstichprobe
Kombination der R? Prädiktorvariablen
A.224 A+B ‚425 A+B+C ‚524 A+B+C+D ‚553 Grundschüler
Kombination der R? Prädiktorvariablen
A ‚018 A+B ‚080 A+B+C„143 A+B+C+D.143 Lern- und geistig Behinderte
Kombination der R? Prädiktorvariablen
A„118 A+B ‚350 A+B+C ‚426 A+B+C+D ‚436
Einfluß des Intelligenzniveaus auf die Leseleistung
Für die Gesamtstichprobe trägt die Prädiktorvariable„Intelligenz“ nur rund 22% zur Varianzaufklärung der Leseleistung bei. Der Anteil an aufgeklärter Varianz kann aber auf über 55% erhöht werden, wenn man als zusätzliche Prädiktorvariablen das„Buchstaben-Nachsprechen ‚vorwärts‘/,rückwärts‘“ und die Reaktionszeit mit heranzieht. Dieses Ergebnis weist darauf hin, daß aufgrund des intellektuellen Leistungsniveaus, wie es mit Hilfe von sprachfreien Testverfahren erfaßt wird, nur ein relativ geringer Varianzanteil der Leseleistung erklärt werden kann. Auch in anderen Studien zum Zusammenhang zwischen der Leseleistung und der Leistung in Ravens Progressiven Matrizen wurden vergleichsweise niedrige Korrelationskoeffizienten berichtet, die zwischen r„,= .14 und 7,=.56 liegen(Carr 1981; Singer& Crouse 1981; Spiegel& Bryant 1978; Stanovich, Cunningham& Feeman 1984; Tulkin& Newbrough 1968; Weaver& Rosner 1979), was einem erklärten Varianzanteil zwischen 2% und 31% entspricht. Desweiteren legen diese Studien den Schluß nahe, daß eine Gruppenunterteilung bzw. Stratifizierung auf
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XXI, Heft 3, 1995
Zuwachs an aufgeklärter Varianz %o-Zuwachs F-Wert p-Wert 20.1 25.52<.001 9.9 14.98<.001 2.9 4.61 ‚03
Zuwachs an aufgeklärter Varianz
%-Zuwachs F-Wert p-Wert 6.2 2.49 LI 6.3 2.65 LI 0.0<1.00 LI
Zuwachs an aufgeklärter Varianz
%-Zuwachs F-Wert p-Wert
23.2 11.78 ‚002 7.6 4.24 ‚04 1.0<1.00 LI
grund der damit verbundenen Homogenisierung der Stichprobe zu einer Abnahme der Korrelationskoeffizienten führt. Ein solcher Stratifizierungseffekt konnte in der vorliegenden Studie auch beobachtet werden: der durch die Intelligenz aufgeklärte Varianzanteil der Leseleistung betrug für die Gruppe der Grundschüler weniger als 2%, für die Gruppe der Lern- und geistig Behinderten, die in beiden Variablen eine größere Streuung aufweisen, immerhin noch 11.8%.
Einfluß der seriellen Kurzzeitgedächtnisspanne auf die Leseleistung
In der Gesamtgruppe klären die Prädiktorvariablen„Buchstaben-Nachsprechen ‚vorwärts‘“ und„Buchstaben-Nachsprechen ‚rückwärts‘“ 20.1% bzw. 19.3% der Varianz der intelligenzunabhängigen Leseleistung auf. Da es sich beim seriellen Vorwärts- bzw. Rückwärtsreproduzieren von Buchstaben um eine Funktion des Kurzzeitgedächtnisses handelt, unterstreicht dieses Ergebnis die Bedeutung des Kurzzeitgedächtnisses im Rahmen des Leseprozesses. Betrachtet man allerdings die getrennten Regressions
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