Zeitschrift 
Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
Seite
89
Einzelbild herunterladen

Die motorische Entwicklung blinder Kinder

Ergebnisse der Bielefelder Längsschnittuntersuchung

Von Heinrich Tröster, Werner Hecker und Michael Brambring

In einer Längsschnittuntersuchung wurde die grob­motorische Entwicklung von zehn geburtsblinden Kin­dern in den ersten drei Lebensjahren verfolgt. Im Ver­gleich zu den Entwicklungsnormen sehender Kinder zeig­ten die fünf reifgeborenen blinden Kinder der Stich­probe in ihrer statuomotorischen Entwicklung nur ge­ringe Entwicklungsverzögerungen, in ihrer lokomo­torischen Entwicklung größere Entwicklungsverzö­gerungen. Die fünf frühgeborenen Kinder(Geburts­gewicht 650-1115 Gramm) wiesen in allen Bereichen ihrer grobmotorischen Entwicklung erhebliche, mit dem Alter zunehmende Entwicklungsverzögerungen auf. Ab­weichungen von der Entwicklungssequenz sehender Kin­der zeigten sich beim Erwerb der Fertigkeiten zur selb­ständigen Haltungs- und Lageänderung(zum Sitzen oder zum Stehen aufrichten) und beim Krabbeln. Blind­heitsspezifische und blindheitsunspezifische Ursachen­faktoren werden diskutiert.

Die Entwicklung blinder Kinder in den

We present a longitudinal study of the gross-motor devel­opment of 10 pre- and full-term congenitally blind chil­dren from the ages of I to 3 years. Results showed that five full-term blind children in the sample exhibited only slight delays in postural development but greater delays in locomotor development compared to developmental norms for sighted children. The five preterm children (birthweight between 650 and 1,115 grams) exhibited major delays in all areas of gross-motor development, and these delays grew larger with increasing age. In both groups, the sequence of development in the skills required for selfinitiated changes in posture and position (sitting or standing up) and for crawling differed from that of sighted children. The discussion considers blind­ness-specific and non-blindness-specific causes for these delays.

(zum Sitzen aufrichten, zum Stand auf­

ersten Lebensjahren gibt den Eltern häu­fig Anlaß zur Sorge. Auffälligkeiten(z.B. Bewegungsstereotypien, vgl. Tröster, Brambring& Beelmann 1991a,b) und Verzögerungen vor allem in der motori­schen Entwicklung ihres Kindes nähren Zweifel an der Angemessenheit ihrer Förderung und werfen die drängende Frage nach einer möglichen Mehrfach­behinderung ihres Kindes auf.

Die Klärung der Ursachen für die Ab­weichungen im Entwicklungsverlauf blinder Kinder setzt Kenntnisse über die blindheitsspezifische Entwicklung vor­aus. Allerdings ist bislang nur wenig über die frühkindliche Entwicklung blin­der Kinder bekannt. Fraiberg(1977) ver­folgte in den 60er Jahren in einer Längs­schnittstudie die Entwicklung von zehn geburtsblinden Kindern bis zu ihrem

dritten Lebensjahr. Verglichen mit der Entwicklung sehender Kinder traten bei den blinden Kindern lokomotorische Fer­tigkeiten(Krabbeln, Laufen) und feinmo­torische Fertigkeiten(Langen, Greifen) deutlich später auf, während sie die Mei­lensteine der statuomotorischen Entwick­lung(Sitzen, Stehen) innerhalb der Al­tersspanne erreichten, in der auch bei 95% der sehenden Kinder diese Fertig­keiten erstmalig zu beobachten sind. Bei einem Vergleich des motorischen Ent­wicklungsstandes von 9- und 12-Mona­te alten blinden und sehenden Kindern (Tröster& Brambring 1992a) zeigten blinde Kinder nicht nur Entwicklungs­rückstände in ihrer Lokomotion und Feinmotorik, sondern auch in ihrer sta­tuomotorischen Entwicklung, insbeson­dere in ihren Fertigkeiten zu selbstini­tüierten Haltungs- und Lageänderungen

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994

richten).

Die vorliegenden Untersuchungen ver­weisen übereinstimmend auf Verzöge­rungen vor allem in der lokomotorischen und feinmotorischen Entwicklung blin­der Kinder. Der Vergleich mit sehenden Kindern läßt jedoch die Frage nach der zugrunde liegenden Ursache der beob­achtbaren Abweichungen offen: Ist das verspätete Auftreten motorischer Fertig­keiten in der Entwicklung blinder Kin­der Anzeichen für eine hirnorganische Schädigung oder das Ergebnis einer nichtangemessenen Förderung des Kin­des oder aber eine direkte Folge des Aus­falls der visuellen Wahrnehmung? Letzteres ist vor allem bei den motori­schen Fertigkeiten anzunehmen, die eine auf entfernte Ziele in der Außenwelt ge­richtete sensuomotorische Koordination

89