erfordern, wie zum Beispiel das Greifen nach einem Gegenstand oder die zielgerichtete Fortbewegung. Bei diesen Fertigkeiten, die eine Verarbeitung sensorischer Distanzinformationen beinhalten, müssen blinde Kinder die fehlende visuomotorische Koordination durch eine audiomotorische Koordination ersetzen. Da audiomotorische Steuerungs- und Koordinationsleistungen, wie etwa das Greifen nach hörbaren Gegenständen oder das Krabbeln auf akustisch lokalisierbare Ziele hin, im Vergleich zur visuomotorischen Bewegungssteuerung und-koordination von blinden Kindern weitergehende perzeptive und kognitive Voraussetzungen erfordern(z.B. Objektpermanenz, vgl. dazu Fraiberg 1977; Tröster& Brambring 1992a), ist ihr verspätetes Auftreten in der Entwicklung blinder Kinder in erster Linie als eine unmittelbare Folge der fehlenden visuomotorischen Koordination anzusehen.
Das Fehlen der Sehfähigkeit wird sich dagegen weniger auf die Bereiche der motorischen Entwicklung auswirken, die keine oder nur in geringem Maße eine Integration sensorischer Distanzinformationen erfordern, wie zum Beispiel statuomotorische Fertigkeiten. Verzögerungen in der statuomotorischen Entwicklung müssen daher eher Anlaß geben, blindheitsunspezifische Ursachen, möglicherweise eine zusätzliche zerebrale Schädigung in Betracht zu ziehen. Allerdings trägt auch die visuelle Wahrnehmung zur Haltungskontrolle und Gleichgewichtsstabilisierung bei(vgl. Williams et al. 1986). Wie experimentelle Untersuchungen zeigen, nutzen sehende Kinder visuelle Informationen über die Stellung des Körpers in Relation zur Umgebung zur Haltungskontrolle und Gleichgewichtsstabilisierung im Sitzen(Butterworth& Hicks 1977) und Stehen(Lee& Aronson 1974; Forssberg& Nashner 1982) sowie bei Haltungs- und Lageänderungen(zum Sitzen aufrichten, zum Stand aufrichten). Für die Haltungs- und Gleichgewichtsmotorik dürften visuelle Informationen vor allem in den Entwicklungsperioden bedeutsam sein, in denen sich im Zuge neuromuskulärer Reifungsprozesse die basalen statuomotorischen Fertigkeiten
90
Heinrich Tröster, Werner Hecker und Michael Brambring+ Die motorische Entwicklung blinder Kinder
ausbilden, während mit zunehmender Erfahrung und Übung die Haltungs- und Gleichgewichtskontrolle durch das mechanisch-vestibuläre System kontrolliert wird(Butterworth 1981).
Die verschiedenen Bereiche der motorischen Entwicklung erfordern von blinden Kindern in unterschiedlichem Ausmaß eine Kompensation des Ausfalls der visuellen Wahrnehmung. Ein Ausgleich der fehlenden visuellen Informationen ist am frühesten in der weitgehend vom vestibulären und propriozeptiven System kontrollierten statuomotorischen Entwicklung zu erwarten. Dementsprechend weisen blinde Kinder in ihrer Haltungsund Gleichgewichtsmotorik keine oder nur vergleichsweise geringe Entwicklungsrückstände gegenüber sehenden Kindern auf(Fraiberg 1977; Tröster& Brambring 1992a). Dagegen ist der Ausfall spezifischer visueller Informationen für zielorientierte Bewegungen im Nahund Fernraum nicht vollständig durch andere Sinneskanäle zu kompensieren. Da die Entfernungsschätzung, aber auch die Richtungslokalisation mit dem Gehör um ein Vielfaches unpräziser ist als mit dem Auge(Ashmead, Clifton& Perris 1987), bleiben auch im Erwachsenenalter blindheitsbedingte Einschränkungen in der Feinmotorik sowie in der Orientierung und Mobilität bestehen. Entwicklungsverzögerungen blinder Kinder in den Fertigkeiten, in denen sie die fehlende visuomotorische durch eine audiomotorische Bewegungssteuerung und-koordination ersetzen müssen, sind daher in erster Linie Ausdruck blindheitsspezifischer Entwicklungsbedingungen anzusehen.
Die psychosozialen Entwicklungsbedingungen bergen ein zusätzliches Risiko für die frühkindliche Entwicklung blinder Kinder. Denn anders als die Eltern sehender Kinder können die Eltern blinder Kinder im Umgang mit ihrem Kind in vielen Situationen nicht auf ihr eigenes, durch die Visualität geprägtes Interaktionsrepertoire zurückgreifen. Die Interaktion mit ihrem Kind erfordert vielmehr eine besondere Sensibilität für die blindheitsspezifischen Wahrnehmungsbedingungen und Reaktionsweisen ihres Kindes. Aufgrund des im ersten Le
bensjahr weitgehenden Fehlens gerichteter Reaktionen blinder Kinder(z.B. Hinwenden des Kopfes, Ausrichtung des Rumpfes oder Ausstrecken der Arme in Richtung des Interaktionspartners, Anlächeln) besteht auf seiten des Gegenübers häufig Unsicherheit über die Aufmerksamkeitsausrichtung des Kindes, wie auch umgekehrt, das blinde Kind in vielen Situationen nicht zuverlässig erkennen kann, ob es im Bereich der Aufmerksamkeit des Interaktionspartners steht(vgl. Tröster& Brambring 1992b). Dies erschwert es der Bezugsperson, kontingent auf das blinde Kind zu reagieren(vgl. Als, Tronick& Brazelton 1980; Tröster& Brambring 1992b). Damit stößt das Bemühen der Eltern um eine angemessene Förderung ihres Kindes auf die Schwierigkeit, in einer frühen Phase der Entwicklung einen tragfähigen Dialog mit ihrem Kind aufzubauen. Hinzu kommt, daß der Ausfall der visuellen Stimulation— die Hauptstimulationsquelle der motorischen Aktivität für sehende Säuglinge— durch eine taktile und auditive Stimulation nicht vollständig ausgeglichen werden kann, so daß die Gefahr besteht, daß das blinde Kind in einer Entwicklungsphase, in der sich basale motorische Fertigkeiten ausbilden, von seiner dinglichen und sozialen Umwelt nicht ausreichend stimuliert wird.
Neben der Blindheit und den damit einhergehenden psychosozialen Entwicklungsgefährdungen müssen zusätzliche hirnorganische Schädigungen als Ursache für Entwicklungsverzögerungen blinder Kinder in Betracht gezogen werden. Dies gilt vor allem für frühgeborene blinde Kinder. Die Frühgeburtlichkeit ist einer der Hauptrisikofaktoren für kongenitale Blindheit. Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Vaskularisation der Netzhaut bei Frühgeborenen kann es infolge einer Überdosierung der Sauerstoffzufuhr bei der Versorgung der Frühgeborenen im Inkubator zu einer, häufig beidseitigen Netzhautablösung kommen (Retinopathia prämaturorum: RPM; früher retrolentale Fibroplasie), die nicht selten eine vollständige Blindheit zur Folge hat(Stadium IV und V der RPM; vgl. Bossi& Körner 1986; Wille 1981).
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994