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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Heinrich Tröster, Werner Hecker und Michael Brambring* Die motorische Entwicklung blinder Kinder

Aufgrund der mit ihrer in der Regel extremen Frühgeburtlichkeit verbunde­nen Risiken(z.B. intrakranielle Blutun­gen, Hypoxie) besteht für blinde Kinder mit RPM die Gefahr einer zusätzlichen hirnorganischen Schädigung. Vorliegen­de Schätzungen der Inzidenz von Schädi­gungen und Behinderungen bei frühge­borenen Kindern variieren allerdings be­trächtlich in Abhängigkeit von den zu­grunde liegenden Schädigungskriterien, den eingesetzten diagnostischen Verfah­ren und der Länge des Beobachtungs­zeitraums. Einer Metaanalyse über 111 Einzelstudien zufolge(Escobar, Litten­berg& Petitti 1991) werden bei etwa 7.71% der frühgeborenen Kinder mit ei­nem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm zerebralparetische Störungen diagnostiziert, bei 25% treten im Laufe der ersten Lebensjahre Behinderungen auf. Aylward, Pfeiffer, Wright& Ver­hulst(1989) schätzen aufgrund ihrer Übersicht über 80 Studien die Inzidenz von Schädigungen bei frühgeborenen Kindern mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm(very low birth­weight) auf 14% und bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1.000 Gramm(extremely low birth­weight) auf 19%. Nach Beckwith& Rod­ning(1991) weisen etwa 22% bis 25% der Frühgeborenen mit einem Geburts­gewicht von unter 1.000 Gramm schwe­re Behinderungen auf.

Einige Untersuchungen(Crome 1958; Potter 1954) geben Hinweise auf eine im Vergleich zu frühgeborenen Kindern höhere Inzidenz neurologischer Schädi­gungen unter Kindern mit RPM(vgl. Scharf& Adams 1984 zur Übersicht). So scheinen bei blinden Kindern mit RPM vermehrt Hirnblutungen aufzutre­ten(Brown, Biglan& Stretavsky 1990; Procianoy, Garcia-Prats, Hittner, Adams & Rudolph 1981). Vohr und Coll(1985) diagnostizierten bei 7 von 14 RPM-Kin­dern mit einem Geburtsgewicht von un­ter 1.500 Gramm, aber nur bei zwei ei­ner nach dem Geburtsgewicht paralel­lisierten Kontrollgruppe von 14 frühge­borenen Kindern neurologische Schädi­gungen(zerebrale Bewegungsstörungen, Krampfanfälle), bei den sieben RPM­Kindern mit negativen neurologischen

Untersuchungsbefund bestand aufgrund ihrer extrem verzögerten Fein- und Grob­motorik der Verdacht auf eine zerebrale Schädigung. Teplin(1988) fand unter 12 blinden Kindern mit RPM im Alter von 1 bis 12 Jahren nur vier Kinder ohne zusätzliche schwerwiegende Beeinträch­tigungen. Einige Autoren(z.B. Crome 1958) vermuten, daß RPM nicht nur eine ophthalmologische Schädigung beinhal­tet, sondern darüber hinaus regelmäßig mit einer, häufig unentdeckten zerebra­len Schädigung einhergeht.

Fragestellung der Untersuchung

Die vorangegangenen Hinweise auf mög­liche Ursachen für Entwicklungsverzö­gerungen blinder Kinder verdeutlichen die Schwierigkeit, die unmittelbaren Auswirkungen der Blindheit von den Abweichungen zu trennen, die auf eine nichtangemessene Förderung oder auf eine zusätzliche hirnorganische Schädi­gung des Kindes zurückzuführen sind. Aufschlüsse über die Auswirkungen der fehlenden Sehfähigkeit gibt die Entwick­lung blinder Kinder, die neben ihrer Blindheit keine zusätzlichen Schädigun­gen aufweisen und die eine behinde­rungsspezifische Frühförderung erfah­ren. Allerdings ist der Ausschluß einer zusätzlichen Schädigung vor allem im ersten Lebensjahr mit erheblichen Unsi­cherheiten behaftet. Häufig liegen keine oder nur unzuverlässige neurologische Untersuchungsbefunde vor, so daß sich Untersucher auf die Angaben der Eltern und der Frühförderer stützen müssen (z.B. Tröster& Brambring 1992a). Das in der Praxis häufig geübte Vorgehen, bei erheblichen Entwicklungsverzöge­rungen auf eine zugrunde liegende hirn­organische Schädigung zu schließen, ist insbesondere bei blinden Kindern sicher­lich problematisch, da blindheitsbedingte Entwicklungsabweichungen unberück­sichtigt bleiben.

Frühgeborene blinde Kinder müssen nach den bisherigen Befunden als eine Sondergruppe betrachtet werden, da sie in ihrer Entwicklung nicht allein durch den Ausfall der Sehfähigkeit, sondern darüber hinaus durch die Risiken ihrer

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994

Frühgeburtlichkeit gefährdet sind. Un­geklärt ist jedoch, inwieweit die mit der Frühgeburtlichkeit einhergehenden Risi­kofaktoren über die Auswirkungen der Blindheit hinaus zu Entwicklungsver­zögerungen führen.

Im folgenden werden die Ergebnisse ei­ner Längsschnittstudie zur frühkind­lichen Entwicklung blinder Kinder vor­gestellt. Im Rahmen dieses derzeit noch laufenden Forschungsprojektes wird die perzeptive, fein- und grobmotorische, sozial-emotionale, kognitive und sprach­liche Entwicklung von zehn seit ihrer Geburt blinden Kindern vom ersten Le­bensjahr bis zum Schuleintritt verfolgt. Die hier berichteten Ergebnisse zur mo­torischen Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren sollen Aufschlüsse über die Auswirkungen der Blindheit und die Frühgeburtlichkeit geben.

Methode

Im Rahmen des Forschungsprojektes! Frühförderung und Familienbetreuung blinder Klein- und Vorschulkinder wer­den seit 1989/90 zehn blinde Kinder re­gelmäßig betreut und entwicklungsdia­gnostisch untersucht. Das Forschungs­projekt verfolgt drei Ziele:(1) die detail­lierte Beschreibung des Entwicklungs­verlaufs blinder Kinder,(2) die Entwick­lung und Durchführung eines Program­mes zur Frühförderung und Eltern­beratung und(3) die Evaluation dieses Interventionsprogrammes.

Die Frühförderung und Elternberatung weist vier Schwerpunkte auf:(1) eine behinderungsspezifische Beratung der Eltern in allen Fragen der Erziehung und Entwicklung ihres Kindes,(2) die Unterstützung der Eltern bei der Bewäl­tigung psychosozialer Probleme und Konflikte innerhalb der Familie im Zu­sammenhang mit der Behinderung ih­res Kindes,(3) eine kindzentrierte Früh­förderung und(4) die Förderung des

1 Das Forschungsprojekt Frühförderung und Fa­

milienbetreuung blinder Klein- und Vorschul­kinder wird im Rahmen des Sonderforschungs­bereiches Prävention und Intervention im Kin­des- und Jugendalter seit 1986 von der Deut­schen Forschungsgemeinschaft(DFG) gefördert.

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