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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Heinrich Tröster, Werner Hecker und Michael Brambring+ Die motorische Entwicklung blinder Kinder

Austausches der betroffenen Eltern durch regelmäßige Elterntreffen,

Die zehn blinden Kinder wurden im Al­ter von 7.5 bis 16.0 Monaten in das Früh­förderprogramm aufgenommen und bis zum Ende ihres 3. Lebensjahres 14tägig und ab ihrem 4. Lebensjahr vierwöchent­lich von einem Frühförderer oder einer Frühförderin? besucht. Die Kinder sind heute(Dezember 1993) zwischen 4 und 5 Jahre alt und besuchen teilweise einen Regelkindergarten.

Erfassung der motorischen Entwicklung

Während der Frühförderbesuche wurde der Stand der perzeptiven, fein- und grobmotorischen, sozialemotionalen, sprachlichen und kognitiven Entwick­lung erhoben. Die dazu entwickelten Be­obachtungsbögen(Checklisten) enthal­ten für jeden Entwicklungsbereich und für jede Altersstufe eine Reihe von hie­rarchisch angeordneten Entwicklungs­items, die an die behinderungsspezifi­schen Wahrnehmungsbedingungen und Reaktionsweisen blinder Kinder ange­paßt sind. Die Beobachtungsskalen wer­den im Rahmen der Frühförderung im Sinne einer Förderdiagnostik(Suhrweier & Hetzner 1993) eingesetzt. So kann der Frühförderer bzw. die Frühförderin an­hand seiner bzw. ihrer Eintragungen die jeweils erreichte Stufe einer motorischen Fertigkeit in Relation zur einem Kriteri­um(z.B.Greift nach hörbaren Objek­ten,Steht sicher ohne Unterstützung) ablesen und die unmittelbar folgenden Entwicklungsschritte des Kindes in den verschiedenen Entwicklungsbereichen absehen.

Nach jedem Frühförderbesuch wurde von der Frühförderin bzw. dem Frühförderer vermerkt, ob das Kind die betreffende Fertigkeit/Verhaltensweise ‚noch nicht bewältigt/zeigt, ‚in Ansätzen bewältigt/ zeigt oder ‚sicher bewältigt/zeigt. Er­gab sich während eines Frühförderbe­

2? Die Frühförderung wurde von Andreas Beelmann, Michael Brambring, Susanne Buitenhuis, Gud­run Dobslaw, Martina Hauptmeier, Werner Hek­ker, Cosima Kurp, Gabriele Licher-Eversmann und Angelika Müller durchgeführt.

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suches keine Gelegenheit, die jeweilige Verhaltensweise zu beobachten, wurde die Bezugsperson des Kindes befragt. Auf diese Weise war es möglich, das erstmalige Auftreten motorischer Fer­tigkeiten mit einer Genauigkeit von etwa 14 Tagen zu erfassen.

Um den unterschiedlichen Auswirkun­gen der fehlenden Sehfähigkeit auf ein­zelne Bereiche und Abschnitte der mo­torischen Entwicklung Rechnung zu tra­gen, wurde bei der Erfassung der moto­rischen Entwicklung zwischen den ba­salen motorischen Funktionen und den darauf aufbauenden komplexen motori­schen Fertigkeiten unterschieden. Da­mit soll die Entwicklung einfacher moto­rischer Basisfertigkeiten, die von blin­den Kindern keine oder nur in geringem Ausmaß eine Kompensation der feh­lenden visuomotorischen Koordination erfordern(z.B. Sitzen, Stehen, Halten von Gegenständen, erste Schritte an der Hand laufen), von den späteren Ent­wicklungsabschnitten diagnostisch ge­trennt werden, in denen der Erwerb kom­plexer Fertigkeiten der auditiven Bewe­gungssteuerung und-koordination so­wie der akustischen Identifizierung und Lokalisation von Gegenständen im Vor­dergrund steht.

Die Beobachtungsskala zur Erfassung der motorischen Basisfertigkeiten ent­hält Beobachtungsitems zur Haltungs­und Gleichgewichtsmotorik(Sitzen, Ste­hen), zu selbstinitiierten Haltungs- und Lageänderungen(zum Sitzen aufrich­

Tabelle 1: Stichprobe der Untersuchung

ten, zum Stand aufrichten), zu lokomo­torischen Basisfertigkeiten(Krabbeln, erste Schritte laufen) und zu manuellen Basisfertigkeiten(Halten, Loslassen von Gegenständen). Die auf diesen moto­rischen Grundfunktionen aufbauenden komplexen motorischen Fertigkeiten werden mit Hilfe der Skalen ‚Orientie­rung und Mobilität(räumliche Orien­tierung, Fortbewegung) und ‚Feinmo­torik(Lokalisieren von und Greifen nach hörbaren Gegenständen) erfaßt. Die vorliegende Arbeit beschreibt die Entwicklung der motorischen Basisfer­tigkeiten der zehn geburtsblinden Kin­der, die im Rahmen unseres Forschungs­projektes betreut werden. Dabei wurde jeweils das Erwerbsalter der einzelnen motorischen Basisfertigkeiten den Ent­wicklungsnormen(Median, Range) se­hender Kinder gegenübergestellt. Die­ser Vergleich soll Aufschlüsse über den Einfluß der Blindheit und der Frühge­burtlichkeit auf die motorischen Ent­wicklung geben, sowie die behinderungs­spezifischen Besonderheiten in der Ent­wicklung blinder Kinder erkennen las­sen. Hinsichtlich der Entwicklung kom­plexer motorischer Fertigkeiten(z.B. Mobilitäts- und Orientierungsleistun­gen) erscheint ein Vergleich mit sehen­den Kindern dagegen nicht sinnvoll, da für sehende Kinder auditive Identifizie­rungs-, Lokalisations-, Steuerungs- und Koordinationsleistungen im Alltag nur eine untergeordnete Rolle spielen.

frühgel blinde Kinder blinde Kinder (n=5)(n=5) Geburtsgewicht 2770-3650 650-1115 (in Gramm) Schwangerschaftsdauer 3840 26-29 (in Wochen) Alter bei Untersuchungsbeginn 9.0-12.5 7.5-16.0* (in Monaten) Alter zum Abschluß der Erhebung 48.0-53.5 49.0-54.5* (in Monaten) Anzahl der Frühförderbesuche 5160 50-55 Ophthalmologische Diagnose Mikrophthalmus(2) Retinopathia Anophthalmus(1) prämaturorum(5) Lebersche Amaurose(1) kortikale Blindheit(1)

* korrigiertes Lebensalter

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994