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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Heinrich Tröster, Werner Hecker und Michael Brambring+ Die motorische Entwicklung blinder Kinder

Stichprobe der Untersuchung

Die zehn Kinder unserer Längsschnitt­untersuchung sind seit ihrer Geburt voll­blind oder verfügen höchstens über Lichtscheinwahrnehmung. Fünf Kinder (3 Jungen, 2 Mädchen) wurden termin­gerecht geboren, fünf Kinder(2 Jungen, 3 Mädchen) sind Frühgeborene. Bei die­sen Kindern, deren Blindheit auf einer Frühgeborenenretinopathie(Retinopa­thia prämaturorum, RPM) basiert, liegt eine extreme Frühgeburtlichkeit vor(Ge­burtsgewicht zwischen 650 und 1.115 Gramm, Schwangerschaftsdauer von 26 bis 29 Wochen). Tabelle 1 enthält die wichtigsten Angaben zur Stichprobe. Zur Kontrolle zusätzlicher Schädigun­gen werden die Kinder einmal pro Jahr pädiatrisch-neurologisch untersucht. Die pädiatrisch-neurologische Diagno­stik beinhaltet eine Untersuchung der kindlichen Reflexe und Koordinations­leistungen, eine bildgebende neurolo­gische Diagnostik konnte noch nicht durchgeführt werden. Bislang(letzter Untersuchungstermin November/De­zember 1993) ergaben sich bei einem der reifgeborenen blinden Kinder und bei vier frühgeborenen blinden Kinder Anzeichen für eine himorganische Schä­digung. Bei einem frühgeborenen blin­den Kind konnte der Verdacht auf eine zerebrale Schädigung(Mikrozephalus) mittlerweile erhärtet werden.

Ergebnisse

In Tabelle 2 wurde das Alter(Median, Altersspannweite), in der die statuomo­torischen Fertigkeiten(Sitzen, Stehen, Haltungs- und Lageänderung) bei den reifgeborenen und frühgeborenen blin­den Kindern erstmalig beobachtet wur­den, den Entwicklungsnormen sehender Kinder gegenübergestellt. Bei den früh­geborenen Kinder wurde das hinsicht­lich der Schwangerschaftsdauer korri­gierte Lebensalter zugrunde gelegt. Für

Die pädiatrisch-neurologischen Untersuchungen wurden von Frau Dr. Rohlmann, Kinderklinik der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel durchgeführt.

Tabelle 2: Statuomotorische Entwicklung

reifgeborene frühgeborene nichtbehinderte blinde Kinder blinde Kinder Kinder (n=5)(n=5)(Normdaten) Sitzen sitzt sicher a 10.0% 6.6° 10.0-11.5 5.0-9.0 spielt im Sitzen a 12.8° 6.9° (mit Lageveränderung) 10.0-14.5 5.0-10.00 Stehen steht mit Festhalten a 12.5 7.6 11.5-16.0 6.7-10.3 steht kurz allein 13.0 19.0 11.0° 12.0-14.0 18.0-37.5 9.0-16.0 steht sicher allein 15.5 33.0 13.1% 13.5-21.0 24.041.0 11.5-15.7 steht sicher 16.0 34.0 e mit Gegenstand in der Hand 14.0-21.0 24.041.0 Haltungs- und Lageänderungen setzt sich allein auf 133° 17.0 8.3° 11.5-16.0 10.5-21.5 6.0-11.0 zieht sich an Möbeln zum Stand 12.0 18.0 8.6° 10.5-13.5 13.0-22.0 6.0-12.0 steht allein auf 17.0 36.0 12.6° 25.042.0

16.0-24.5

9.0-18.0

Anmerkungen. Altersmedian(in Monaten). Zweite Zeile: Altersspannweite. * zu Beginn der Untersuchung von allen Kindern gekonnt.

b von einem Kind zu Beginn der Untersuchung im Alter von 11 Monaten gekonnt. © Bayley Scales of Infant Development(Bayley 1969); 5-95% Altersspannweite.

4 Denver Entwicklungsskalen(Flehmig 1975); 25-90% Altersspannweite. ce

Keine Altersangabe für sehende Kinder verfügbar.

die Gruppe der termingerecht gebore­nen blinden Kinder fehlen die Altersan­gaben für die Entwicklung des Sitzens, da alle reifgeborenen blinden Kinder zu Beginn der Längsschnittuntersuchung im Alter von 9.0 bis 12.5 Monaten be­reits sicher sitzen konnten und der ge­naue Erwerbszeitpunkt nachträglich nicht mehr zuverlässig zu ermitteln war. Ebenso konnte die Entwicklung der fein­motorischen Basisfertigkeiten nicht ver­folgt werden, da alle blinden Kinder zu Beginn der Studie in der Lage waren, einen in die Hand gelegten Gegenstand zu halten und wieder loszulassen.

Die Mehrzahl der termingerecht gebore­nen Kinder zeigten die Fertigkeiten der Haltungskontrolle und Gleichgewichts­stabilisierung innerhalb der 95%-Alters­spannweite der nichtbehinderten Kin­der. Im Durchschnitt konnten sie etwa zwei Monate später als sehende Kinder ohne Unterstützung stehen. Etwas grö­Bere Verzögerungen von 4.4-5.0 Mona­ten wurden bei selbständigen Haltungs­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994

und Lageänderungen beobachtet: Vier Kinder dieser Gruppe konnten sich erst später als 95% der sehenden Kinder ohne Hilfe zum Sitzen aufrichten und zwei Kinder sich zum Stand aufrichten.

Im Unterschied zu den reifgeborenen blinden Kindern erreichten nur wenige der frühgeborenen blinden Kinder die Meilensteine der statuomotorischen Ent­wicklung innerhalb der 95%-Alters­spannweite sehender Kinder. Sie konn­ten durchschnittlich erst etwa 4 Monate später als sehende Kinder sicher sitzen, fast 20 Monate später sicher stehen und waren erst sehr viel später in der Lage, sich selbständig zum Sitzen(8.7 Mona­te) und zum Stand(23.4 Monate) aufzu­richten.

Im Vergleich zum Entwicklungsverlauf sehender Kinder fällt auf, daß blinde Kinder, nachdem sie in der Lage sind, im Stehen ihr Gleichgewicht zu halten, länger als sehende Kinder brauchen, ehe sie sich selbständig zum Stand aufzu­richten können. Während sehende Kin­

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