Franz B. Wember- Evaluation in Einzelfallstudien
nicht zu erreichen. Wer etwa im Bereich der Schwerst- oder Mehrfachbehinderten forscht, braucht sehr große Einzugsgebiete, um überhaupt genug Kinder und Jugendliche zu finden, die vergleichende Untersuchungen mit nur geringer Teststärke zulassen. Hier tauchen jedoch zwei zusätzliche Schwierigkeiten auf, die typisch für sonderpädagogische Forschung sind, das ethische Problem der Kontrollgruppenbildung und das Problem der Inhomogenität von Behindertenpopulationen.
Die Bildung von Kontrollgruppen, die keine Behandlung erfahren, ist nicht immer ethisch zu rechtfertigen. Wenn Menschen beispielsweise unter schweren Behinderungen leiden und pädagogischer Hilfe dringend bedürfen, kann man diese einem Teil der Betroffenen nicht deshalb vorenthalten, weil es das gewählte Forschungsdesign verlangt. Die ethische Verantwortung der Forscherinnen und Forscher ist jedoch nicht nur bei schweren, sondern auch bei vergleichweise leichten Behinderungen gefragt: Wenn Kinder in der Grundschule unter Lernstörungen leiden, die bereits zu partiellen Schulleistungsausfällen geführt haben, und wenn diese ohne entsprechende Förderung zu umfänglichen und schwerwiegenden Lernbehinderungen zu generalisieren drohen, dann dürfen forschende Sonderpädagogen nicht tatenlos zusehen, wie bei einem Teil der Kinder die Leistungsausfälle immer dramatischer werden und in deren Gefolge das Selbsterleben der Kinder zunehmend negativ wird, nur weil diese der Kontrollgruppe zugewiesen oder zugelost wurden. Allerdings tauchen solche ethischen Schwierigkeiten in der angewandten Forschung vergleichsweise selten auf, weil hier die Kontrollgruppen zumeist eine alternative statt keiner Behandlung erfahren, z.B. den traditionellen Unterricht, das übliche Förderprogramm usw., und weil ja zum Zeitpunkt der Untersuchung noch gar nicht klar ist, ob die neue Intervention wirklich besser ist als die bislang zur Anwendung gekommene. Ganz anders ist das beim letzten Realisierungsproblem, das hier diskutiert werden soll, der Inhomogenität von Behindertenpopulationen.
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Das Ziehen von repräsentativen Stichproben setzt wohldefinierte Populationen voraus; solche sind in der Sonderpädagogik jedoch nicht gegeben. Begriffe wie„Lerbehinderung“,„Sprachbehinderung“ oder„Verhaltensstörung“ beispielsweise sind im wesentlichen schulrechtliche Begriffe, die nicht überall in gleicher Weise angewendet werden. Wer als lernbehindert, sprachbehindert oder verhaltensgestört bezeichnet wird, das hängt nur zum Teil von individuellen Verhaltensmerkmalen und Leistungen ab. Mitentscheidend ist u.a. das Bundesland mit seinen jeweiligen Vorschriften, der Verlauf der bisherigen schulischen Karriere, der Standort der Schule, die Politik des Schulamtsbezirks, die Mißerfolgstoleranz der Lehrerinnen und Lehrer, die Anzahl der zur Verfügung stehenden Förderplätze an Sonderschulen usw. Populationen von Verhaltensgestörten, Lern- oder Sprachbehinderten, die auf diese Weise entstehen, sind schlecht definiert und ganz und gar nicht einheitlich: Es gibt zwar einige wenige Charakteristische Merkmale, die bei allen so oder so bezeichneten Kindern erkennbar sein sollten, aber ansonsten sind die Populationen äußerst inhomogen und nicht trennscharf abgegrenzt. Ein und dasselbe Kind kann durchaus im einen Schulamtsbezirk in die Schule für Sprachbehinderte und im nächsten Bezirk in die Schule für Lernbehinderte, vielleicht sogar in die Schule für Verhaltensgestörte gehen.
Die große Inhomogenität betrifft alle Behindertenpopulationen, davon kann man sich unschwer überzeugen, wenn man sich die Schülerschaft einer beliebigen Schule für Geistigbehinderte, für Körperbehinderte, für Seh- oder Hörgeschädigte ansieht. Wenn alle diese Populationen jedoch schlecht definiert und äußerst inhomogen sind, hat dies Auswirkungen auf die Realisierbarkeit von Gruppenvergleichsstudien: Es ist immer ausgesprochen schwierig und manchmal geradezu unmöglich, vergleichbare Stichproben zu gewinnen. Falls jedoch Kontroll- und Experimentalgruppe hinsichtlich der interventionsrelevanten Voraussetzungen und Bedingungen nicht gleich sind, können die empirisch
erzielten Resultate nicht zweifelsfrei auf die Intervention zurückgeführt werden. Dieses Problem ist zumindest in der amerikanischen Forschung seit langem bekannt. Als Lösung wurde vorgeschlagen, bestimmte, für die Charakterisierung von Personenstichproben besonders aussagekräftige Variablen(sog. marker variables) bei sonderpädagogischen Forschungsprojekten grundsätzlich zu erheben, aber dieses aufwendige und kostenträchtige Verfahren dürfte sich in der Forschungspraxis kaum durchsetzen (vgl. Keogh, Major-Kingsley, OmoriGordon& Reid 1982).
Probleme der Praxisrelevanz
Vorausgesetzt, ein gruppenvergleichendes Design läßt sich realisieren, so ist immer noch zu prüfen, ob das Design auch Antworten auf die wirklich interessierenden Fragen zuläßt. Bei Evaluationsforschung ist hier vor allem der Frage nachzugehen, ob sich das Forschungsprojekt in der Praxis durchführen läßt, Ohne die alltäglichen Vorgänge nachhaltig zu stören, und ob die zu erwartenden Ergebnisse praxisrelevant sind, im Endeffekt also dazu dienen können, das alltägliche sonderpädagogische Handeln zu verbessern. Solche Überlegungen werden in der zumeist grundlagenwissenschaftlich orientierten Methodenliteratur eher am Rande behandelt, aus Sicht der praxisbegleitenden angewandten Forschung sind sie jedoch von primärer Bedeutung; denn sie berühren die zentrale Frage der Generalisierbarkeit von empirischen Ergebnissen auf Situationen alltäglicher Berufspraxis. Wir wollen im folgenden drei Probleme beleuchten: die mangelnde Flexibilität, die mangelnde Sensitivität für individuelle Differenzen und die mangelnde Repräsentativität für das Verhalten einzelner.
Vollständige und teilweise Randomisierung stört im allgemeinen den Alltag in einer sonderpädagogischen Institution erheblich, da die Kinder bzw. Jugendlichen willkürlich in Gruppen aufgeteilt werden müssen. Nun hatten wir bereits festgestellt, daß Randomisierung in der sonderpädagogischen Forschung fast nie
HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994