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Heilpädagogische Forschung : Zeitschrift für Pädagogik und Psychologie bei Behinderungen
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Franz B. Wember ­

Evaluation in Einzelfallstudien

vorkommt, weil hier zumeist mit beste­henden Gruppen gearbeitet wird, aber auch dann ist die Durchführung eines Forschungsprojektes nicht unproblema­tisch. Die Methodologie des Guppen­vergleiches erfordert nämlich in aller Regel eine feste Zuteilung von Personen zu Gruppen sowie eine fixe Terminie­rung von Interventions- und Kontrollbe­dingungen. Eine flexible Anpassung an institutionelle Veränderungen, an die Unwägbarkeiten des Alltags oder an ak­tuell entstehende Bedürfnisse der Ver­suchspersonen kann nicht erfolgen, ohne die interne Validität der empirischen Stu­die zu gefährden. Aus sonderpädagogi­scher Sicht nachteilig ist vor allem der Umstand, daß eine Intervention nach fe­stem Zeitplan implementiert werden muß und nicht in Abhängigkeit von Erfolg oder Mißerfolg der Lernenden modi­fiziert werden kann. Dies entspricht ganz und gar nicht der alltäglichen Vorge­hensweise. Eine praktisch arbeitende Sonderpädagogin wird, falls ihr Schüler das gesetzte Ziel erreicht hat, eine Inter­vention beenden und diese nicht über­flüssigerweise weiterführen, und sie wird die Intervention länger fortsetzen als ge­plant, vielleicht sogar intensivieren, wenn mangelnder Lernfortschritt dies nötig macht. Sonderpädagogische Eva­luationsforschung brauchte eine flexible Methodologie die erlaubt, Probleme so zu studieren und so zu lösen wie in der Praxis(vgl. Langfeldt 1990, 286).

Ein zweites Praxisproblem bei Gruppen­vergleichsstudien ist deren geringe Sen­sitivität für individuelle Differenzen. Nehmen wir an, ein Programm zur För­derung des Lesens habe im Nachtest sta­tistisch signifikant höhere Werte bei lernbehinderten Kindern erbracht als sie Kinder erzielt haben, die nur traditio­nell unterrichtet wurden, und nehmen wir weiter an, der Unterschied sei groß genug, um praktisch signifikant zu sein. Können wir daraus schließen, das neue Programm habe allen Kindern gehol­fen? Viele meinen, diese Frage bejahen zu können, aber White(1984, 76) nennt dies zurecht das geläufige Vorurteil von der Gleichförmigkeit des Interventions­effektes der Effekt scheint einheitlich zu sein, aber dieser Eindruck resultiert

allein aus der Tatsache, daß nur grup­penbezogene Statistiken wie Mittelwer­te oder Streuungsmaße analysiert wer­den, und diese sind für individuelle Differenzen gewissermaßen blind. Die Erfahrung aus vielen Forschungen zeigt, daß in aller Regel von einer differen­tiellen Wirksamkeit einer Intervention auszugehen ist, d.h. ein Teil der Experi­mentalgruppe hat große, ein Teil hat kleine und ein Teil hat keine Lernfort­schritte gemacht oder gar Rückschritte erlitten. Solche Differenzen werden in Gruppenstatistiken als Fehlervarianz be­handelt und nicht weiter untersucht, aber aus sonderpädagogischer Sicht sind ge­rade solche differentiellen Interventi­onseffekte von besonderer Bedeutung: schließlich ist die Sonderpädagogik schon immer eine differentielle Pädago­gik gewesen, in der versucht wurde, In­terventionen zu individualisieren und den besonderen Erfordernissen des ein­zelnen anzupassen. White fordert fol­gerichtig(1984, 77), man solle im An­schluß an Gruppenvergleichsstudien die Subgruppen der erfolgreichen und we­niger erfolgreichen Lerner zu identifi­zieren und hinsichtlich charakterisieren­der Merkmale zu beschreiben suchen, um in Zukunft faktorielle Designs reali­sieren zu können, in denen verschiede­ne, in sich homogenere Teilgruppen der Zielpopulation untersucht werden. Die­ser Vorschlag führt schnell zu fakto­riellen Designs mit sehr vielen Zellen. Er ist angesichts der bereits diskutierten Stichprobenprobleme in Sondererzie­hung und Rehabilitation deswegen kaum umzusetzen, zumal er wegen der hohen Inhomogenität von Behindertenpopu­lationen zu immer weiteren Ausdiffe­renzierungen und letztendlich dazu füh­ren wird, jede Zelle mit nur einer Per­son zu besetzen, weil keine zwei Perso­nen wirklich vergleichbar wären ein Gedanke, den wir weiter unten wieder aufgreifen wollen und der uns zum letz­ten Kritikpunkt führt, der geringen in­dividuellen Repräsentativität von Grup­penvergleichsergebnissen.

Empirisch ermittelte mittlere Effekte sind, interne Validität vorausgesetzt, Te­präsentativ für vergleichbare Stichpro­ben: sie lassen Aussagen zu über zu­

HEILPÄDAGOGISCHE FORSCHUNG Band XX, Heft 3, 1994

künftig zu erwartene mittlere Effekte in Gruppen, aber sie lassen keine Aussa­gen zu über zu erwartende individuelle Effekte bei Einzelpersonen. Das hängt damit zusammen, daß Interventionen, wie soeben gezeigt, in aller Regel keine uniforme, sondern differentielle Wirk­samkeit zeigen, vor allem in inhomoge­nen Stichproben. Niemand weiß jedoch, welcher Subpopulation ein bestimmtes Individuum, das behandelt werden soll, zuzurechnen ist: Gehört es zu denen, die besonders viel, besonders wenig oder eher durchschnittlich profitieren? Aus sonderpädagogischer Sicht folgen hieraus zwei zentrale Probleme. Erstens ist zu konstatieren, daß individuelle Ef­fekte fast immer deutlich von den in Gruppen berechneten Durchschnittswer­ten abweichen, so daß die in Gruppen­vergleichsstudien ermittelten Ergebnis­se von Praktikern nur mit äußerster Vor­sicht benutzt werden dürfen. Zweitens besteht die Arbeit der Sonderpädagogen im Kern darin, individuell angepaßte pädagogische Interventionen durchzu­führen. Weil die Herangehensweise des Forschers nicht der des Praktikers ent­spricht, bieten die vergleichsweise un­differenzierten Forschungsergebnisse nicht die Orientierung, die in der Praxis gebraucht wird. Hier wüßte man gerne, wer von welcher Intervention unter wel­chen Bedingungen in welchem indivi­duellem Ausmaß profitiert. Wir werden im folgenden eine neue Forschungs­strategie vorstellen, die zwar nicht alle in diesem und im vorangegangenen Ab­schnitt angesprochenen Probleme zu 1ö­sen vermag, die in ihrer Vorgehensweise jedoch der praktischen sonderpädago­gischen Arbeit eher entspricht als die traditionelle Strategie des Gruppenver­gleichs.

Einzelfallanalysen als Alternativen

Nicht zuletzt die weiter oben angespro­chenen Realisierungsprobleme haben dazu geführt, daß die in Abbildung 3 aufgeführten gruppenvergleichenden Designs in der pädagogischen Evalua­tionsforschung vergleichsweise selten an­

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