Heft 
(2016) 101
Seite
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Marie von Ebner-Eschenbach zum 100. Todestag  Fischer 35 Von Marianne Kinsky und Marie von Ebner-Eschenbach existiert eine Fo­tografie aus der Zeit um 1900, die Marianne lesend im Stuhl vor einem Schreibtisch zeigt, während die Tante neben ihr steht und sich mit einer Hand auf die Stuhllehne stützt. 22 Ein Bild der Vertrautheit ohne beengende Vertraulichkeit. Auf einer gemeinsamen Venedig-Reise mit Marianne, dem Neffen Victor Graf Dubsky und Otto von Fleischl-Marxow(1849–1937) im Herbst 1907, der letzten Italien-Reise, die Marie von Ebner-Eschenbach un­ternahm, hat Marianne die Tante auf dem Markusplatz beim Taubenfüt­tern fotografiert. 23 Sie selbst ist 1914 von Marie Müller(1847–1835) porträ­tiert worden. 24 Lange hat sie ihre Tante nicht überlebt. Die am 26. Juli 1857 geborene Tochter der Friederike Gräfin Dubsky und des August Leopold Graf Kinsky(1817–1891), die mit vollem Namen Maria Anna Pia Theresia Gräfin Kinsky hieß, starb vier Jahre später, 1920, im Alter von 63 Jahren. Es ist an der Zeit, neben der Krambambuli-Autorin die wenig bekannte Aphoristikerin ins rechte Licht zu rücken, in das Licht jenes humanen In­tellekts, das ihre Kunst der knappen Form auf Zustände und Verhältnisse im öffentlichen und privaten Leben wirft. 25 »Es giebt Menschen mit leucht­endem und Menschen mit glänzendem Verstande. Die ersten erhellen ihre Umwelt, die zweiten verdunkeln sie.« 26 Die Erzählerin der Dorf- und Schloßgeschichten 27 verdient es, wegen der spannungsreichen sozialen und moralischen Polarität zwischen Dorf und Schloss dem Autor der »Schloßgeschichten« 28 gegenübergestellt zu werden. 29 Krambambuli ist dafür nur ein Beispiel. Die Stadt und der urbane Raum sind ihr nicht we­niger wichtige Welten sozialer Möglichkeiten und Begrenzungen vor al­lem für weibliche Lebensentwürfe. 30 Die Dramatikerin, die ihre Schwä­chen hat, muss nicht durch gut gemeinte, aber tendenziöse Darstellungen gerechtfertigt werden. 31 Sie hat Außenseitergeschichten erzählt( Das Gemeindekind, 1887), die auf Sentimentalität, nicht aber auf Empathie und die Härte der Realität verzichten. Ihre mittellange Erzählung Der Vorzugsschüler(1898) mit töd­lichem Ausgang hat in Joseph Roths kurzer Erzählung mit demselben Titel Der Vorzugsschüler(1916) eine überraschende Antwort erhalten. Lektüre und Gegenlektüre bilden zusammen ein lehrreiches Kapitel über die de­struktive Potenz von Bildungszwang und Bildungskarrierismus in einer nahezu erstarrten Gesellschaft. Bei näherem Hinsehen zeigen die Erzäh­lungen Ebner-Eschenbachs mehr Einsicht in die sozialen Bedingungen von Haltungen und Handlungen, als die Kritik ihnen zugesteht; 32 die Klüfte zwischen den sozialen Lebenswelten werden gelegentlich scharf ausfor­muliert:»Fort mit Ihnen, zu Ihresgleichen, die Sie bewundern. Das Elend bewundert euch nicht das verachtet euch und euren Firlefanz... Fort!« 33 Andererseits hat Ebner-Eschenbach die kulturell reich gegliederten habsburgischen Landschaften von»Galizien bis Mähren, von Siebenbürgen­bis Wien« 34 literarisch zur Anschauung gebracht. Leben und Werk sind