Heft 
(2016) 101
Seite
64
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64 Fontane Blätter 101 Rezensionen und Annotationen Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane: ängstliche Moderne. Über das Imaginäre. Konstanz: Konstanz University Press 2014. 818 Seiten. 29,90 Achthundert Seiten»Theodor Fontane«, das ist wieder einmal ein vielseiti­ges Fest, ausgerichtet von einer Hand. Zugegeben, nicht nur von Theodor Fontane wird die Rede sein, sondern zugleich von vielen anderen. Da aber auch von Fontane gelten kann, dass er»nicht bloß ein einzelner Mensch« ist, sondern»einem Ganzen« angehört(HFA I/4, 235) und die vierbändigen »Freundesbriefe« diese Gemeinschaft längst vorgezeichnet haben, ist die Erweiterung des Personenkreises und Blickwinkels, wenn es um»Fonta­ne« geht, geradezu eine natürliche Konsequenz. Zeitlicher Rahmen und Zentralperspektive der Studie, die Gerhart von Graevenitz vorlegt, bildet die»ängstliche Moderne«. Diese aber versteht sich nicht(nur) als Produkt des Autors Fontane, worauf der ankündigende Doppelpunkt im Titel hin­weisen könnte; vielmehr geht es vor allem um das im Titel zuletzt Genann­te, das»Imaginäre«, um seine Geschichte, seine Medien, seine rasante Ausbreitung und welchen Anteil»Fontane und seine Freunde«, so die wie­derkehrende Formulierung, daran haben. Methodisch gesehen, liegt also keine Individualbiographie, sondern eine kultur- und prägnant mediengeschichtliche Studie vor, die sich mit der Profilierung des Imaginären an der soziologischen Begriffsschöpfung Cornelius Castoriadis(dt. 1990) orientiert(vgl. zur Begriffsunterlegung Anm. 37, 742 f.) und eigene frühere Forschungsergebnisse(z.B.»Memoria und Realismus«, 1993) ausbaut. Was»das Imaginäre« ist, lässt sich nicht mit einem Wort sagen, denn es umfasst sehr viel: alle ›Phänomene‹(früher hätte man vielleicht gesagt, den Überbau). Es ist Quelle, Medium, Produkt und Speicher dessen, was die ›kollektive‹ Welt visuell zunehmend prägt und bewegt. Alle Vorstellungen, Einbildungen und Phantasien gehören dazu, alle Institutionen, Ordnungen und Normen; insofern lässt es sich kaum von den wirksamen Dingen der realen Welt scharf unterscheiden. Sichtbare, lesbare Gestalt gewinnt dieses Imaginäre durch und in den il­lustrierten Zeitschriften des 19. Jahrhunderts, aber auch andere Medien wie Architektur,(Welt-)Ausstellungen, Museen, Opernhäuser, Bücher, Photographien, Bekleidungen und realistische Erzählstile(vgl. S. 709) ma­chen es erfahrbar. Insofern ist das Imaginäre nicht einfach eine anthropo­logische Konstante oder ein philosophisch-ästhetischer Grundbegriff, sondern eine historische Größe, die, noch bevor es diesen Begriff gibt, ent­steht und ab ca. 1850 beschleunigt wächst. Den Ausgangspunkt der Studie bildet der anschauliche Gedanke ­Edward B. Tylors(dt. 1873), dass die Welt gleich einer»Person« stets»vor­wärts« schreite und, wenn überhaupt, nur kurzfristig zögere, taumele, seitwärts abschweife oder rückwärts trete(11). Weil dies aber doch