Heft 
(2016) 101
Seite
65
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Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane  Aust 65 ­geschieht, mischen sich in den Fortschritt Reste des Zurückgelassenen ein, »Ueberlebsel«. Sie sind für von Graevenitz die Faktoren, die aus der mutig aufgeklärten Zeit eine»ängstliche Moderne« machen, in den Werken der Realisten, Fontanes zumal, gespenstische Spuren hinterlassen und ins kol­lektiv Imaginäre eingehen. Als ›Uhrwerk‹ in der Geschichte dieses Imaginären erweisen sich ›Tei­len‹ und ›Kreuzen‹, also Grundoperationen, deren Entdeckung dem Sozio­logen Georg Simmel zugeschrieben wird, der ein Schüler von Moritz ­Lazarus war. Und mit letzterem ist man schon mitten unter Fontanes Freunden, zu denen Adolph Menzel, Franz Kugler, Friedrich Eggers u.a. zählen und die sich im Tunnel über der Spree, dem Rütli oder der Ellora trafen und in gemeinsamen Medien zu Wort meldeten. Liefert Simmels Differenzierungskriterium das operative Leitmotiv für von Graevenitz Studie, die Werk für Werk den unendlichen Wiederholungen und Entspre­chungen bis hin zur Serienproduktion nachfragen wird, so rückt mit Men­zels Bildern und ihrer Tradition ein Werkkomplex in den Blick, der sich mit Fontanes Schreibkomplex mannigfach kreuzen wird(fast könnte im Titel neben»Theodor Fontane« auch»Adolph Menzel« stehen). Lazarus trägt aus völkerpsychologischer und wahrnehmungstheoretischer Sicht zur Kontu­rierung einer ›Verdichtungs‹-Figur bei, die das Sozial-Imaginäre beider Werkkomplexe strukturiert. Eggers reicht mit seiner Empfehlung, die im­mer größer und unübersichtlich werdende Welt durch Multiplikation der Kleinform ›Genre‹ zu erfassen, den Schlüssel für die malerischen und sprachlichen ›Wimmelbilder‹ Menzels und Fontanes. Und jenseits des en­gen Kreises gibt Gottfried Semper mit seinem Bekleidungs- und Verhül­lungskonzept dem ›programmatischen Realismus‹ den rationalen Verklä­rungskern vor. Altmodisch gesprochen, zeichnet sich also eine gewaltige Einfluss- und Wechselwirkungsgeschichte ab, in deren Netz»Theodor Fontane« imaginär verstrickt ist. Demonstriert werden solche Teilungs- und Kreuzungsverhältnisse zu­erst an ausgewählten Stationen in Fontanes Biographie, die, typisch mo­dern, bereits als(Goethesches?)»Stückwerk«(51) aufgefasst wird. Solche ›Stücke‹ sind z.B. Fontanes Standortfindung im konservativen Spektrum der nachrevolutionären Zeit und im Umkreis seiner Tätigkeit für die Kreuz ­Zeitung. Dabei rücken insbesondere Teilung und Kreuzung von»Junker und Juden« als»Grundbesitzgemeinschaft« und»Abhängigkeitsgemein­schaften«(80) in den Blick, dergestalt, dass der eine Teil dort schwindet bzw. unterliegt, wo der andere auftritt bzw. dominiert, und dass die Sym­pathie mit dem Prinzip der einen Seite unter Absehung ihrer Träger nur die»schlimme Rückseite« eines»Antisemitismus ohne Juden« sei(81, so mit Bezug auf Peter Gay). Aus dieser» Doppelung von Teilungen«(82) ge­winnt von Graevenitz eine»abstrakte Struktur«, die»zu einer maßgebli­chen Form der Imagination« in Fontanes Texten und Bildern werde. So