Heft 
(2016) 101
Seite
109
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Erleben und Vermittlung des Glücks in Stine Chambers 109 ­abwechselnd eine rote Schärpe mit Goldfranzen und dann wieder einen braunen Kastorhut mit Reiherfeder als Schönstes wünschte.« 5 In beiden Fällen ist die Quelle des flüchtig aber direkt erlebten Glücks ein umrahmtes Bild, fest umrissen und attraktiv, scharf eingestellt, aber auch durch Glas distanziert. Als Olga dann das erwartete Stück Kuchen tatsächlich von der »Tante« Wanda in Hand und Mund erhält und buchstäblich einverleiben darf, währt das Glück nicht lange und das volle Glück scheint ein Kuchen mit Rosinen zu sein, der ihr in der Ferne als Wunschobjekt vorschwebt. Von dem Stück Kuchen heißt es: »[sie] biß dann herzhaft ein und schmatzte vor Vergnügen. Aber schnö­der Undank keimte bereits in ihrer Seele, und während es ihr noch ganz vorzüglich schmeckte, sagte sie schon vor sich hin: ›Eigentlich is es gar kein richtiger Ohne Rosinen Einen mit Rosinen ess ich lieber.« 6 Die Möglichkeit, der Sinn für das Potentielle scheinen in diesen beiden Fällen, bei der Pittelkow und ihrer Tochter, dem eigentlichen eigenen Le­ben in der Wirklichkeit vorzuziehen zu sein. Das sind echte Ursachen des Vergnügens in der Gegenwart und sie bestehen im Sehen. Das gleiche trifft für den alten Baron und den alten Grafen zu. Dem Baron ist der Ausblick von seiner Zietenplatz-Mohrenstraße-Ecke auf »ganz Berlin« besonders viel wert 7 sowie auch der Blick auf die Sperlinge in der Dachrinne 8 »die Sperlinge. Meine Passion!« erklärt er Waldemar, 9 um auf der nächsten Seite eine zweite Passion zu nennen, nämlich»kleine weiße Atlasschuhe« 10 . In beiden letzteren Fällen hat das Gefallen am Gese­henen das direkt erlebte Liebesleben bzw. eine Hochzeit ersetzt, aber ohne jede Spur der Nostalgie oder des Bedauerns von Seiten des Barons. Im Al­ter genügt ihm dieses Glück des scharf eingestellten sinnlichen Wahrneh­mens.»[I]mmer amüsant, und das ist für mich das Entscheidende« meint er, 11 und seine Hochzeitsbeschreibung besteht aus visuellen Komponenten: »[] abends steigen Raketen aus dem Park in den schwarzblauen Himmel auf, und im Kruge, was immer das Interessanteste bleibt, gibt es nichts als Friesröcke, Brustlatz und Zwickelstrümpfe.« 12 Eine Passion des alten Gra­fen von Haldern sind italienische Kunstwerke, vornehmlich Mantegna. In seinem Fall weidet er doch nostalgisch seine Augen an einer Mappe italie­nischer Kupferstiche und»schwelg[t] in Reminiscenzen« 13 , vermutlich äs­thetischen. Auch Stine beglückt das Sehen in hohem Maße, was der Leser durch ihre Beschreibung eines ganz besonderen Ausflugs weit hinaus ins Bran­denburger Land erfährt. Von der Gruppe heißt es, dass sie am Spreeufer Reifen gespielt hätte: »Ihr[Stine] aber sei das Herz so zum Zerspringen voll gewesen, daß sie nicht habe mitspielen können, wenigstens nicht gleich, weshalb sie sich unter eine neben dem Hause stehende Buche gesetzt und durch die herab­hängenden Zweige wohl eine Stunde lang auf den Fluß und eine drüben