40 Fontane Blätter 105 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte »Im übrigen ist alles hinüber«. Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg als Reservoir einer Poetik der Enttäuschung Nils C. Ritter Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg, 1 an denen Theodor Fontane von den ersten Reisefeuilletons 1859 bis zur Wohlfeilen Ausgabe 1892 immer wieder als sein offenes, fortsetzbares work in progress gearbeitet hat, sind in vielfacher Hinsicht ergiebiger Begleiter und Ausdruck seiner umfangreichen journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeiten. 2 Über die Jahre hinweg wurden die Wanderungen für Fontane zum» episodischen Großtext«, 3 zum primären Referenzkompendium seiner Stoffe, aber ebenso zu einer wertvollen Sammlung und zugleich Übung struktureller Beobachtungen und Konstellationen, beispielsweise hinsichtlich der Entwicklung von Figurendialogen, Wahrnehmungssteuerungen oder Blicklenkungen. Ob in direkten und teils wörtlichen Übernahmen von Ortsbeschreibungen, in der Disposition von Dialogen oder der Erfassung der Wahrnehmungsebenen vor Ort: Der Quellencharakter seiner monumentalen» Meta-Erzählung« 4 tritt in zahlreichen Romanen und Erzählungen mal offen, mal diskreter zutage. 5 Die Wanderungen sind» seinen Romanen[…] wie eine kontrapunktische Begleitmelodie unterlegt« 6 , und sie stehen für einen grundlegenden Ansatz im Schaffen Fontanes: Der Wanderer sieht seine Aufgabe im Einsammeln, Aufzeigen und Verknüpfen von Daten, Biographien und Räumen, um Wissen und darin Erinnerungsorte preußischer Geschichte zu reaktivieren. 7 Dabei ist Fontane kein Historiker, und er will auch keiner sein, die Wanderungen sind ein poetischer Text und Fontane ein poetischer Sammler. Seine Freude am» Einsammeln« 8 und Verknüpfen von Geschichte und Geschichten vollzieht sich durch eine Auflockerung der Grenzen zwischen den Ebenen der Wahrnehmung der Landschaften und der Projektion einstiger historischer Relevanz,»der Wanderer schreitet durch die Zeit hindurch voran in eine poetisierte Vergangenheit Preußens«. 9 Seine Recherchen manifestieren sich in diversen kleinen Formen: Dorfchroniken, Kirchenbucheinträge, Memoiren, Briefwechsel, Nekrologe,
Heft
(2018) 105
Seite
40
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