122 Fontane Blätter 105 Rezensionen und Annotationen Grete Röder: Protestantischer Realismus bei Theodor Fontane Würzburg: Koenigshausen& Neumann 2017. 384 S.(Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft; 863)€ 49,80 Grete Röders Bielefelder Dissertation, für die sie den Dissertationspreis der Universitätsgesellschaft Bielefeld erhielt, analysiert zwei Romane F ontanes: L’Adultera und Quitt. So scheint es wenigstens. In Wirklichkeit bildet Röders Buch eine Bestandsaufnahme der Fontane-Forschung bis heute und nicht zuletzt eine kritische Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen von Wandrey und Radbruch bis Grawe und Zuberbühler. Röders Buch hat demzufolge zwei Grundpfeiler. Einerseits bietet es eine gründliche Analyse von L’Adultera und Quitt. Andererseits sind die beiden Romane bei Röder Träger von Einsichten in Fontanes Werk, die weit über eine Einzelanalyse hinausgehen. Sie ersetzen das geläufige Konzept von poetischem Realismus, Verklärung und Resignation durch einen Deutungsrahmen, der Verklärung und Humor mit den Grundbegriffen des Protestantismus lutherischer Provenienz verbindet. Um dies vorweg zu sagen: das Resultat ist sehr überraschend und bereichernd. In ihrem Verlangen nach absoluter Wahrheit ist die vorgelegte These jedoch auch eine Herausforderung an die Fontane-Forschung, die Tragfähigkeit dieser Annäherung gegen das Licht zu halten. Grete Röders grundlegende These steht am Anfang ihres Buches: »Die Darstellung von Religion und Kirche nimmt in Fontanes Romanen einen breiten Raum ein. Pfarrerfiguren gehören zum Personal der meisten Romane. In seinen autobiographischen Schriften, vor allem den Briefen, findet man Reflexionen über religiöse Fragen und Urteile über kirchliche, theologische und kirchenpolitische Entwicklungen und Ereignisse. Die hohe ästhetische Reflexivität Fontanes lässt sich in seinen Werken auch bei der Darstellung von Religiosität und Religion erkennen. Religion wird sichtbar gemacht in unterschiedlichen narrativen Verfahren.«(S. 11) Wie gestaltet sich die»hohe ästhetische Reflexivität« in L’Adultera und Quitt? Zunächst geht es dabei um biblische Vorstellungen und um künstlerische Darstellungen, beziehungsweise Verarbeitungen dieser Bilder. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist die Geschichte der Ehebrecherin aus Johannes 8, Vers 1–11. Diese Vorstellung überspannt den Roman L’Adultera mittels des Gemäldes von Tintoretto: Cristo e l’adultera. Röder fasst die Totalität der biblischen Erzählungen und ihrer Gestaltungen in Literatur und bildender Kunst, in Liedern und Gebeten treffend zusammen als»Traditionskapital«. Die von Röder intendierte Analyse geht weit über die Identifikation von Teilen dieses Traditionskapitals in Fontanes Romanen hinaus. Die Verfasserin stellt die Frage nach der konstitutiven Beschaffenheit der ursprünglich biblischen Erzählelemente in L’Adultera und Quitt. Die Frage nach der narrativen Funktion der genannten Elemente ist in dieser Arbeit
Heft
(2018) 105
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122
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