Heft 
(2018) 105
Seite
123
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Röder: Protestantischer Realismus bei Fontane  Ester 123 Teil der übergreifenden Besinnung auf Sinngebung des menschlichen Le­bens vor dem Hintergrund von Schuld und Sühne. Mit ihrem Anliegen, das im christlichen Glauben verankert ist, stellt Röder hohe Ansprüche an die Überzeugungskraft ihrer Analyse des Zusammenhangs von Erzählung und religiösem Fundament. Im Falle Melanies, der Ehebrecherin des Romans LAdultera, ist ein Zu­sammenhang der biblischen Figur mit der Berliner Verteterin der besse­ren Gesellschaft direkt gegeben. Um welchen Zusammenhang geht es je­doch? Röder umschreibt den Zusammenhang von Bild und Romanfigur als Einhergehen von Abgrenzung und Zustimmung. Sie erklärt diese Doppel­heit, indem sie zwischen dem Erzähler und dem Leser unterscheidet: »Wenn Fontane mit dem Bild- und Bibelzitat auf die Autorität eines religi­ösen Traditionszusammenhangs zurückgreift, so verwandelt er zwar die ›fremde‹ Stimme in die ›Klangfarbe‹ des eigenen Erzählens, stellt aber den Leser doch immer wieder vor die Aufgabe, die Geschichte Melanies zu le­sen im Kontext des vorgegebenen Bildzitats.«(S. 114) Die verwendeten Begriffe sind durchschlaggebend für die nachfolgen­de Interpretation. Was bedeutet in diesem Zusammenhang»Autorität« der religiösen Tradition? Wie groß ist der Deutungsspielraum des impliziten Lesers? Letztlich geht es um die Frage nach den religiösen und ethischen Werten, die dem Roman zugrundeliegen, Werte, die nach Röders Ansicht unumstritten sind. Röders Darstellung und Deutung verdienen Respekt. Bei ihrer Analyse wagt die Verfasserin sich wohlbeschlagen aufs Eis. Röder hat sich intensiv mit der Geschichte des Protestantismus wäh­rend des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt. Sie kennt die Probleme der Säkularisierung, der Verbindung von Obrigkeit und Kirche und ist ver­traut mit der Auffächerung des Protestantismus in verschiedene Religions­gemeinschaften. Es handelt sich bei Röder also keineswegs um eine ober­flächliche Beschäftigung mit der Frage nach der Reichweite von Schuld, Sühne und Vergebung im Roman LAdultera. Das Bewusstsein der Schuld und das Verlangen nach Rechtfertigung sind wesentlich für Melanies ­Wiedergewinnung des Gleichgewichts. Röder beleuchtet vor allem Melanies Weg von der Schuld und dem expliziten Schuldbewusstsein bis zur Schuld­vergebung und zur Gnade:»Die Schuldvergebung und die Gnade werden nicht mit einem Glaubensbegriff erklärt, sondern ermöglichen eine radika­le Neuorientierung ihres Lebens. In der religiösen Erfahrung hat sie sich selbst gefunden, so kann sie sich der Wirklichkeit stellen.«(S. 195) Die Sta­tionen zu diesem Ziel der Selbstrechtfertigung und der Selbstgerechtigkeit sind nach Röder die Geburt des Kindes in Venedig und der Besuch der ­Nikolaikirche. Als äußerer Rahmen kommt dann nach Röder das Feiern der christlichen Feste Weihnachten und Ostern hinzu. Um dem Gewicht des an dieser Stelle kurz zusammengefassten analytischen Schemas gerecht zu werden, liegt es nahe, Melanies innere Entwicklung in ihrer Totalität zu