Röder: Protestantischer Realismus bei Fontane Ester 123 Teil der übergreifenden Besinnung auf Sinngebung des menschlichen Lebens vor dem Hintergrund von Schuld und Sühne. Mit ihrem Anliegen, das im christlichen Glauben verankert ist, stellt Röder hohe Ansprüche an die Überzeugungskraft ihrer Analyse des Zusammenhangs von Erzählung und religiösem Fundament. Im Falle Melanies, der Ehebrecherin des Romans L’Adultera, ist ein Zusammenhang der biblischen Figur mit der Berliner Verteterin der besseren Gesellschaft direkt gegeben. Um welchen Zusammenhang geht es jedoch? Röder umschreibt den Zusammenhang von Bild und Romanfigur als Einhergehen von Abgrenzung und Zustimmung. Sie erklärt diese Doppelheit, indem sie zwischen dem Erzähler und dem Leser unterscheidet: »Wenn Fontane mit dem Bild- und Bibelzitat auf die Autorität eines religiösen Traditionszusammenhangs zurückgreift, so verwandelt er zwar die ›fremde‹ Stimme in die ›Klangfarbe‹ des eigenen Erzählens, stellt aber den Leser doch immer wieder vor die Aufgabe, die Geschichte Melanies zu lesen im Kontext des vorgegebenen Bildzitats.«(S. 114) Die verwendeten Begriffe sind durchschlaggebend für die nachfolgende Interpretation. Was bedeutet in diesem Zusammenhang»Autorität« der religiösen Tradition? Wie groß ist der Deutungsspielraum des impliziten Lesers? Letztlich geht es um die Frage nach den religiösen und ethischen Werten, die dem Roman zugrundeliegen, Werte, die nach Röders Ansicht unumstritten sind. Röders Darstellung und Deutung verdienen Respekt. Bei ihrer Analyse wagt die Verfasserin sich wohlbeschlagen aufs Eis. Röder hat sich intensiv mit der Geschichte des Protestantismus während des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt. Sie kennt die Probleme der Säkularisierung, der Verbindung von Obrigkeit und Kirche und ist vertraut mit der Auffächerung des Protestantismus in verschiedene Religionsgemeinschaften. Es handelt sich bei Röder also keineswegs um eine oberflächliche Beschäftigung mit der Frage nach der Reichweite von Schuld, Sühne und Vergebung im Roman L’Adultera. Das Bewusstsein der Schuld und das Verlangen nach Rechtfertigung sind wesentlich für Melanies Wiedergewinnung des Gleichgewichts. Röder beleuchtet vor allem Melanies Weg von der Schuld und dem expliziten Schuldbewusstsein bis zur Schuldvergebung und zur Gnade:»Die Schuldvergebung und die Gnade werden nicht mit einem Glaubensbegriff erklärt, sondern ermöglichen eine radikale Neuorientierung ihres Lebens. In der religiösen Erfahrung hat sie sich selbst gefunden, so kann sie sich der Wirklichkeit stellen.«(S. 195) Die Stationen zu diesem Ziel der Selbstrechtfertigung und der Selbstgerechtigkeit sind nach Röder die Geburt des Kindes in Venedig und der Besuch der Nikolaikirche. Als äußerer Rahmen kommt dann nach Röder das Feiern der christlichen Feste Weihnachten und Ostern hinzu. Um dem Gewicht des an dieser Stelle kurz zusammengefassten analytischen Schemas gerecht zu werden, liegt es nahe, Melanies innere Entwicklung in ihrer Totalität zu
Heft
(2018) 105
Seite
123
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