Heike Gfrereis im Interview mit Peer Trilcke 73 bunden, bei denen man zunächst denkt: Wir können sie unmöglich ausstellen, weil wir nicht wissen, was sie bedeuten. Und das ist ja im Bereich der Literatur, der Text-Kunst, deren Wert wir dadurch bestimmen, dass wir sie entschlüsseln und zumindest lesen können, durchaus ein wenig peinlich und oberflächlich: Wir zeigen etwas, dessen Bedeutung wir nicht kennen. Sobald wir aber diesen Anspruch aufgeben, alles lesen und im Idealfall auch noch auf einen irgendwie höheren und erbaulichen Sinn festlegen zu wollen – und damit auch den Unterschied zwischen Oberfläche und Tiefe suspendieren –, schenken uns solche Phänomene andere Perspektiven auf einen Autor, den wir vielleicht nur allzu gut zu kennen glauben. Fontanes Linien und Punkte öffnen ihn wieder für unsere Phantasie und eine ungewohnte und neue, unmittelbare ästhetische Erfahrung. PT: Das musst Du genauer erklären. Fangen wir bei Fontanes Zeichnungen an. Was reizt Dich an diesen Zeichnungen, die doch recht flüchtig hingeworfen sind und von einem – darauf können wir uns vermutlich einigen – nicht sonderlich begabten Zeichner stammen? HG: Diese Zeichnungen lassen offen, ob sie etwas bezeichnen oder nur sich selbst meinen: Spur, Zeichen oder Bild, Randerscheinung oder Ziel, Verdichtung oder Aus- oder Abschweifung, Konkretisation oder Abstraktion, bewusste Gestaltung oder unbewusstes Treibenlassen? Sie führen uns einen Schritt zurück, an den Beginn des Schreibens, an so etwas wie Fontanes Nullpunkt der Literatur. Wassily Kandinsky führt 1926 in seiner Studie Punkt und Linie zu Fläche an eben einen solchen Nullpunkt zurück. Er begreift die malerischen Elemente als eine Folge von konkreten Berührungen des Papiers durch die Hand des Künstlers und damit seiner äußerlichen und innerlichen Bewegungen:»Der Punkt ist das Resultat des ersten Zusammenstoßes des Werkzeuges mit der materiellen Fläche, mit der Grundfläche.[…] Die geometrische Linie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also ein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden – und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossen Ruhe des Punktes.« 2 Diese an der abstrakten Kunst eingeübte Sichtweise auf Fontanes Punkte und Linien scheint nur auf den ersten Blick anachronistisch. Fontane selbst kannte die künstlerische Reduktion aus der ostasiatischen Malerei:»Es wird in ihnen die Kunst geübt, einen Effekt oder eine Perspektive mit allergeringsten Mitteln hervorzubringen, und ist mir namentlich allerlei Landschaftliches in Erinnerung geblieben, auf dem der Zeichner oder Maler, aus drei Linien und einem Farbenklecks, einen Binnensee samt Berg und Landzunge vor mich hinzuzaubern wußte.« 3 Und er kannte sie noch mehr aus der militärischen Strategie, der Kriegsführung, die auf der Kartographie und Notation basiert:»Alle großen Schlachten sind mit drei Linien gewonnen worden. Und diese drei Linien hab ich auch für morgen in petto«, 4 behauptet Generalmajor von Bamme in Vor dem Sturm. Im
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(2018) 106
Seite
73
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