Heike Gfrereis im Interview mit Peer Trilcke 75 selben Roman befinden sich im Zimmer des sieglosen Berndt von Vitzewitz mehrere»Spezialkarten von Rußland«, die mit»zahllose[n] rothe[n] Punkte[n] und Linien« übersät sind. 5 1891 erinnert sich Fontane in einem Brief an Hermann Wichmann an seine Arbeit an den Wanderungen:»[I]ch weiss noch ganz deutlich,[…] dass ich glücklich war mal wieder einen alten Dorfkirchhof abgeklappert und neuen Stoff für die Beschreibung zu haben, dass ich über den Kriegskarten sass und mitten in der Nacht aufsprang, um einen Schlachtplan in wo möglich drei Linien aufzuzeichnen (je weniger Linien desto besser; ja dies ›wenige‹ – weil erst die rechte Klarheit gebend – war die eigentliche Schwierigkeit)«. 6 PT: Also sind Fontanes Linien und Punkte nicht nur eine Technik der Reduktion, sondern führen wieder zu einer Verdichtung? HG: Auf alle Fälle. Fontane verdichtet, indem er reduziert und dann die Extrakte und Kondensate in Variationen kombiniert und dosiert – ein Vorgang, der sehr konkret verstanden werden kann, wenn man daran denkt, was Fontane als Apotheker gemacht hat. Sein Baukasten ist auf die Lücken zwischen den Punkten und Linien und damit auf unsere Phantasie, unsere Einbildungskraft hin berechnet. Wir sind es, die aus Punkten und Linien Landschaften oder Gesichter herauslesen und aus Wellen ganze Weltbewegungen. Fontane ist ein Andeuter, der mit Vorahnungen und Spuren, mit Omina und Indizien, Erwartungen und Enttäuschungen arbeitet – erzählerisch-strukturell und, wie man an den Notizbüchern und Manuskripten sieht, auch kreativ-materiell. Seine Technik ist durchaus mit der des alten Gottfried Schadow vergleichbar, von dem er berichtet, wie er einem Schüler das Zeichnen beibrachte:»›Nu pass uff. Ich mach det so.‹ Dabei nimmt er des Schülers Kreidestift, tupft Punkte mit fester Hand auf das graue, grobkörnige Zeichenpapier, und während er diese Punkte mittelst sicher gezogener Linien untereinander verbindet, brummt er vor sich hin: ›Det hab ich von meinem Vater. Der war’n Schneider‹.« 7 Zeichnen und eben auch Schreiben ist hier mit unterschiedlichen Berührungs- und Bewegungsoperationen verbunden, die daraufhin angelegt sind, Wörter, Sätze und Namen, Ereignisse und Orte jeder Zeit verfügbar zu machen, erinnerbar und verwendbar. Fontane spielt mit Variationen des Kontexts, so dass es für viele seiner Formulierungen mehr als nur eine Belegstelle gibt. Es gibt bei ihm, im Widerspruch zu seinem Gedichttitel So und nicht anders, nicht ein ausschließliches ›Genau so!‹, sondern vielmehr ein ›So oder so ähnlich oder auch ganz anders …‹. PT: Das aber nichts mit Beliebigkeit zu tun hat? HG: Nein, im Gegenteil, es hat sehr viel mit genauer Beobachtung zu tun und mit einem Gespür für Wahrheit, für das, was Realität in Wirklichkeit ist: eine sehr ambivalente Erfahrung, eine unsichere Erinnerung, eine
Heft
(2018) 106
Seite
75
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten