76 Fontane Blätter 106 Freie Formen unscharfe Interpretation oder eben auch nur eine stehende Redewendung, die alles in der Schwebe lässt und damit alles sagt. In Meine Kinderjahre zitiert Fontane seinen Vater, der einen Vers zitiert:»›Ist die Blume noch so klein,/ Etwas Honig sitzt darein.‹ Oder so ähnlich. Man kann nicht alle Verse auswendig wissen.« 8 Diese Art und Weise, in der Sprache so ganz nebenbei die Wahrheit mitsamt ihren scheinbaren Verfälschungen aufleuchten zu lassen – und eben nicht: die Wirklichkeit richtig abzubilden –, besitzt bei Fontane ein Pendant in seinen Notizen, Materialsammlungen, Manuskripten und Briefen. Er dreht und wendet seine Papiere beim Schreiben, führt sie sozusagen im Kreis herum und stellt sie auf den Kopf, kommt dabei mit sich selbst ins Gespräch, was Gabriele Radecke beschreibt, 9 verschneidet sie miteinander, mischt sie ab und kompiliert, wie es Petra McGillen in ihrer Dissertation Original Compiler: Notation as Textual Practice in Theodor Fontane offenlegt, 10 und er zwingt dadurch sich und im Falle der Briefe dann auch seine Leser zur wiederholten, ganz konkreten und sinnlichen Berührung einer Seite, wie es Thorsten Gabler vorführt. 11 Fontane in der Handschrift lesen bedeutet zwangsläufig: immer wieder das Papier drehen und wenden, sich auf die Bewegungen, Stufen, Schichten und Richtungen des Schreibens einlassen, auch wenn man sie nicht immer sicher, sondern manchmal nur irgendwie rekonstruieren kann. Selbst am Computer reagiert man auf Fontanes dichte Beschreibungen und seine Spürbarkeit der Zeichen mit einer Berührung und ist gezwungen, zu skalieren und zu drehen, Blätter und Stellen mit der Maus ›anzufassen‹. PT: Jetzt sind wir bereits tief in die Materialpraktiken Fontanes eingestiegen. Ich möchte noch einmal auf einen Punkt zurückkommen, den Du zu Beginn erwähnt hast. Du hast davon gesprochen, dass es produktiv ist, bei der Beschäftigung mit solchen Materialpraktiken den ›Unterschied zwischen Oberfläche und Tiefe zu suspendieren‹, dass sich andere Perspektiven ergeben, wenn man das, was auf dem Papier geschehen ist, nicht sogleich auf einen ›höheren und erbaulichen Sinn‹ festlegt. Geht es Dir also eher um die Sinnlichkeit des Schreibens als um dessen Sinn? Und steckt nicht in der Sinnlichkeit doch auch wieder sehr viel Sinn? HG: Ich glaube, man kann Sinn und Sinnlichkeit in der Kunst nicht voneinander trennen, aber man wird beim öffentlichen Reden über Literatur und noch mehr beim Ausstellen von Literatur immer wieder aufs Neue geradezu dazu gedrängt, diese sinnlichen Dimensionen des Schreibens wie des Lesens gegenüber der vermeintlichen Referenz ihres Gegenstands deutlich zu machen: Sie sind substantiell und nicht oberflächlich. Ein poetischer Text ist kein Gefäß und kein Ausdrucksmedium, er ist selbst die Füllung und Mitteilung. So, wie er ist und wie er da steht. Dieses ›So-wie-er-istund-da-steht‹ wird in seiner ganzen Nichtselbstverständlichkeit, seiner
Heft
(2018) 106
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76
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