Heft 
(2017) 103
Seite
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100 Fontane Blätter 103 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Ein kreativer Apparat. Die Mediengeschichte von Theodor Fontanes Bibliotheksnetz und Lektürepraktiken 1 Petra McGillen Wer die Überbleibsel von Theodor Fontanes Handbibliothek untersucht, erhält den Eindruck, dass in dem bedeutenden Realisten kein besonders eifriger Leser steckte: Am Ende seines Lebens reichten ein großer und ein kleiner Bücherschrank sowie zwei offene Regale aus, um die bescheidenen paar hundert Bände aufzubewahren, die er besaß und von denen ein Bruchteil im Theodor-Fontane-Archiv aufbewahrt wird. 2 Fontanes eigent­liche Bibliothek war allerdings ganz anderer Natur nicht an einen festen Ort gebunden, sondern virtuell; nicht auf bestimmte Themenbereiche be­schränkt, sondern in ständiger Expansion begriffen; nicht mit einer zähl­baren Menge von Objekten bestückt, sondern mit einer fluktuierenden An­zahl von Quellen. Fontane unterhielt ein postalisches Bibliotheksnetz, das ihn mit einem endlosen Zufluss von Lesestoffen versorgte, Stoffe, die ent­scheidend für den Autor und den Beginn seines Schreibprozesses waren. Mein Beitrag rekonstruiert die Mediengeschichte dieses Bibliotheksnetzes einschließlich Wachstumsprinzipien, epistemischer Folgen und Fontanes Interaktion mit diesem Netz als Leser um zu zeigen, dass die Bibliothek eine Poetik der Rekombination sowie die rhetorische Technik der inventio 3 anregte, auf denen der Schreibprozess des Autors fußte. Die Bibliothek hat logistische Spuren in einer Reihe von gedruckten und ungedruckten Quellen hinterlassen. Hierzu zählen Fontanes Briefwechsel, Tagebücher und seine nicht edierten Notizbücher. 4 Mein Beitrag verbindet diese Quellen und profiliert Fontane als einen»allesfressenden« Leser, der sich strategisch einem Zuviel von Texten aussetzte und dabei mühelos zwi­schen»Highbrow-« und»Lowbrow«-Quellen hin und her wechselte. 5 Fontane­reagierte auf dieses Übermaß verschiedenster Materialien mit ei­nem Repertoire virtuoser Lektüretechniken. Die Lektüretechniken ermög­lichten es ihm, mit dem gesamten Spektrum unterschiedlicher Quellen kre­ativ zu werden, die der Massenmedienmarkt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in enormen Mengen bereitstellte. Fontanes Bib­liothek und Lektürepraktiken machen ihn zu einem prominenten Vertreter