Ein kreativer Apparat McGillen 101 des so genannten Zeitalters der»Textualisierung« 6 , das sich durch einen starken Anstieg in der Menge der Drucksachen, beschleunigte Textzirkulation, wachsende Lesefähigkeit in der Bevölkerung und die Entstehung eines mächtigen literarischen Marktes mit Massenpublikum auszeichnet. Somit kann die Geschichte von Fontanes Umgang mit seiner Bibliothek selbst zum Fall werden, an dem sich Bedingungen, Grenzen und Möglichkeiten von Lesen und Schreiben in der Medienlandschaft des neunzehnten Jahrhunderts untersuchen lassen. Im Folgenden stehen also drei Dinge auf dem Spiel: die weitgehend unbekannte Geschichte von Fontanes Interaktion mit seiner virtuellen Bibliothek, ein genaueres Verständnis der im Wandel begriffenen Textpraktiken im späteren neunzehnten Jahrhundert und die poetologischen Implikationen von Lektüre im Exzess. 7 1. Adressen anhäufen: Fontanes Betrieb eines postalischen Bibliotheksnetzes In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fanden Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Leserinnen und Leser eine radikal veränderte und insgesamt instabile Lage vor. Technologische Innovationen wie die Rotationsschnellpresse mit Rollenzufuhr ermöglichten immer weiter ansteigende Auflagenzahlen, billigere Bücher und die Massenproduktion von Periodika, die dank verbesserter Bildreproduktionsverfahren in zunehmendem Maße mit Illustrationen ausgestattet waren. 8 Insbesondere die illustrierten Familienzeitschriften – Hybridmedien zwischen Zeitung und Buch – präsentierten Texte und Bilder, Nachrichten und Romane, Produkte der Hoch- und Populärkultur sowie Ausschnitte aus literarischen und wissenschaftlichen Diskursen in einer heterogenen Mischung und eröffneten somit einen Lektüreraum, der nicht länger ausschließlich literarisch strukturiert war. 9 Vielmehr griff ein Massenpublikum auf diesen Raum zu, das neben Erbauung vor allem auf»Unterhaltung und Information« 10 aus war und nicht bloß ausgewählte Bücher las, sondern die übergroße Masse von Drucksachen durchstöberte und konsumierte. Fontane interagierte in einer Vielzahl von Rollen mit dem entstehenden Massenmedienmarkt: In seinen Tätigkeiten als Journalist, Herausgeber, Korrespondent, Dichter und Romancier(um nur einige dieser Rollen zu nennen) unternahm er Anstrengungen, an der neuen Lesekultur teilzunehmen und den Strom zirkulierender Texte für sein eigenes Schreiben anzuzapfen – letztlich mit dem Ziel, seine Texte wieder in eben diese Zirkulation einzuspeisen. Wie sich zeigen wird, war Fontanes wichtigstes Hilfsmittel für den Anschluss an den Umlauf der Texte seine einzigartige Bibliothek. Diese Bibliothek muss man sich in erster Linie als eine»postalische« vorstellen: Sie bestand aus einem Adressen-Netz, das zwischen Einzelper-
Heft
(2017) 103
Seite
101
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten