Aus der Kapelle schimmerten rot Die Kerzen am Altäre:
Es lag die junge Gräfin tot Auf der schwarzen Bahre.
Diese Ballade ist nicht gerade ein Meisterwerk. Die manchmal ein wenig klappernden Verse sind in unregelmäßigen Rhythmen abgefaßt und beginnen größtenteils jambisch. Die Sprache paßt sich dem Chronikenstoff an und altertümelt (Buhle; Schirm [für Schutz]; Weile [für Ruhepause]; empfahn). Das Unvermittelte und Sprunghafte des Balladenstils, das Naive der Erzählweise, die stereotype Wiederholungen an den Satz- bzw. Versanfängen liebt, weiß Kugler einigermaßen zu treffen. In einigen Strophen (13, 14 und 17) stellt, ob nun beabsichtigt oder nicht, die zweite Hälfte der Strophe eine (an Heine erinnernde) kritisch-ironische Antithese der ersten Hälfte dar.
Den Hauptinhalt der Ballade bilden die Reise des Grafen nach Rom, die drei Audienzen beim Papst, die Habgier der katholischen Kirche, die zugleich bußfertige Unterwerfung verlangt, und schließlich die Rückreise. Von den siebenundzwanzig Strophen sprechen nur sechs von dem Liebesverhältnis zwischen Bruder und Schwester.
Der Gesamteindruck bestätigt Storms beiläufiges Urteil, demzufolge Kugler „ja kaum ein Poet war“ (Brief an G. Keller vom 7. August 1885) 5 .
Was uns aber an der Ballade interessieren soll, das ist weniger ihr künstlerischer Wert oder Unwert als vielmehr die Einstellung Kuglers zur Inzestproblematik.
An sich war es ein ziemlich unerhörtes Wagnis, im „Tunnel“ eine Ballade mit solchem Thema vorzutragen. Denn was die Liebe anging, so verlangte „Tunnel“ ohnehin eine sublimierte Darstellung und verwahrte sich gegen realistischere Gestaltung. Deshalb wurde z. B. Fontanes Gedicht „Maria und Bothwell“ — gemäß Fontanes eigenem Sitzungsprotokoll vom 19. Oktober 1851 — von einigen als „widerwärtig“, ja, als „ekelhaft“ empfunden. Es war daher vorauszusehen, daß sich der „Tunnel“ nun gar mit dem Inzest noch schwerer abflnden würde. Allerdings mußte die Reaktion des „Tunnels“ wesentlich davon ab- hängen, wie sich der Dichter zum Inzest stellte. Und in dieser Hinsicht kam Kugler den Auffassungen des „Tunnels“ bzw. seiner Majorität gewiß entgegen.
Abgesehen davon, daß Kugler eine breite Ausmalung des verbotenen Liebesverhältnisses vermeidet, gibt er durch den Schluß seiner Ballade zu erkennen, daß er den Inzest bedingungslos verdammt. Dieser Schluß, der unvermittelte Tod der Schwester, ist natürlich poetisch tadelnswert, da die Motivierung fehlt und der Eindruck der Zufälligkeit unabweisbar ist; er hat aber offenbar die Funktion, die dargestellten Vorgänge abschließend zum ethischen Standpunkt aus zu bewerten, d. h. den Inzest mitsamt dem päpstlichen Konsens zu verwerfen. Der plötzliche