Heft 
(1977) 26
Seite
145
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Tod der Schwester bekundet» wie wir mit Storni vermuten dürfen 8 , nichts anderes als das Eingreifen Gottes, der den Inzest verhindert.

Besonders an diesem Punkte setzte die Kritik Storms an. Storni, der seinGeschwisterblut alspositive Kritik verstanden wissen wollte 7 , hat seine Abweichungen von Kugler selbst folgendermaßen erläutert: Das Gedicht selbst anbelangend, so ist der Stoff mit dem Kuglerschen nur insofern gemeinsam, als in beiden Gedichten die Geschlechtsliebe zwischen Bruder und Schwester vorkommt; bei Kugler ist sie aber nur die Veranlassung dessen, was dargestellt wird, bei mir der eigentliche Vorwurf des Gedichtes. Auch im übrigen habe ich den Stoff nach meinem poetischen Bedürfnis umgestaltet. Bei K. hat die Schwester sich der Leidenschaft ergeben und stirbt am Schluß des Gedichtes, bei mir bleibt sie leben und ergibt sich am Schluß des Gedichtes (Brief an Eggers vom 6. Februar 1853) 8 . Daß bei Kugler die Schwester stirbt, war auch nach Storms späterer Ansichtüberhaupt kein Schluß, nur ein Notdach (Brief an G. Keller vom 7. August 1885) 9 .

Bei der künstlerischen Gestaltung des Stoffes hat Storm das Lyrische, zumal das Gefühlsleben der Schwester, stark betont und statt dessen den Bericht über Geschehnisse (wie Reise und Audienzen) fast ganz in den Hintergrund gedrängt. Er erzielte auf diese Weise die gewünschte schwüle Stimmung und im ganzen eine lyrische Auffassung des Stoffes. Gottfried Keller, derGeschwisterblut sehr schätzte, hat daher das Gedichtnicht zu der epischen Poesie, sondern zu der lyrischen im höchsten Sinne gerechnet, denndies alles ist die ergreifendste Lyrik (Brief Kellers an Storm vom 19. November 1884) 10 .

Ferner weicht Storm von Kugler darin ab, daß es nach seiner Darstel­lung dem Bruder nicht gelingt, das Einverständnis des Papstes zu erhalten. Diese Änderung war für Storm notwendig, da er eine prinzipiell andere Haltung zum Inzestproblem einnahm und darum einer päpstlichen Ausnahmebewilligung nicht bedurfte.

Denn Storm betrachtet die ethische Norm, die den Inzest verbietet, als nicht absolut verbindlich. Ausgehend von der materialistischen Auffas­sung, daß jede Sitte ihrreelles Fundament hat, stellt Storm fest, das Inzestverbot beruhe darauf, daß in der Regel der natürliche Trieb zu einer Verbindung von Bruder und Schwester fehlt. Diese Tatsache bildet eben dasreelle Fundament der ethischen Norm. Ist aber der Trieb ausnahmsweise doch vorhanden, so argumentiert Storm in einem Brief an Friedrich Eggers vom 29. März 1853, dann kann der einzelne sich der allgemeinen Sitte gegenüber oder viemehr entgegen zu einem Ausnahmefall berechtigt fühlen. Daß er nun sein natürliches Recht, nachdem er es vergebens mit der Sitte in Einklang zu bringen gesucht hat, kühn gegen alles Verderben eintauscht, was den Bruch in das Allgemeingültige [...] über ihn bringen muß, da ist das, was ich als den poetischen Schwerpunkt empfunden habe 11 .

Nach Storm kann sich also - in der Dichtung! - der einzelne über eine solche triebbedingte ethische Norm hinwegsetzen, wenn er sich durch seinnatürliches Recht dazu ermächtigt glaubt. Allerdings ist vorauszu-