Heft 
(1977) 26
Seite
146
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sehen, daß er damit seinem Verderben entgegengeht, da er am Wider­stand der Gesellschaft scheitern wird. Aus solchen Auffassungen heraus gab es für Storm keine Veranlassung, sein Gedicht mit dem Sieg der herrschenden Moral enden zu lassen, da die abweichende Entscheidung des einzelnen in Starms Augen durchaus ihrerseits ethisch wertvoll ist. Denn sie beruht auf einemnatürlichen, subjektiv begründeten Recht.

Allerdings ist Storm dieser seiner Sache nicht allezeit sicher gewesen, so daß er gelegentlich den Stoff alsüberhaupt wohl kaum berechtigt bezeichnet hat (Brief an Mörike vom 2. Dezember 1855) 12 .

An anderer Stelle hat er indessen seine Auffassung und bestimmte Grundpositionen seiner dichterischen Aussage sehr energisch verteidigt und dabei den ethischen Belangen sogar eine durchaus untergeordnete Stellung angewiesen. Er schrieb nämlich an Friedrich Eggers am 13. März 1853:Soll der Stoff einmal behandelt werden, so muß die Schönheit und Kraft der Leidenschaft dargestellt werden, wie sie alles andre vor sich niederwirft und überstrahlt; und dies beides enthält der Schluß des Poems. Die Darstellung der Leidenschaft darf nicht dadurch geschwächt werden, daß der Dichter sie zuletzt noch in irgendeiner Weise einem sittlichen Motive unterordnet; die sittlichen Verhältnisse haben in diesem Gedichte nur die Bedeutung, daß sie besiegt werden. 12

Für Kugler war eine solche Haltung zum Inzestproblem, hinter der man fast einen ästhetischen Immoralismus vermuten könnte, undenkbar und untragbar. Ihm stand fest, daß das Sittengesetz siegen muß, und zwar so unverrückbar, daß er nichts dabei fand, diesen Sieg durch den unmotivierten, also poetisch zufälligen Tod der Schwester herbeizuführen. Er zog also einen Verstoß gegen Forderungen der Ästhetik dem Vergehen gegen Gesetze der Ethik vor. Denso sehr im Stoffe liegenden Konflikt von Sitte und Leidenschaft, den Storm namentlich behandelt sehen wollte (Brief an Mörike vom 2. Dezember 1855) 14 , gab es für Kugler in diesem Falle nicht.

In diesem Sinne hat Kugler zu StormsGeschwisterblut Stellung genom­men, und zwar in einem Brief an Storm vom 18./19. Mai 1853, und Kugler scheint auch die theoretischen Erörterungen gekannt zu haben, mit denen Storm in seinem Brief an Friedrich Eggers vom 29. März 1853 seine Auffassungen zu begründen versuchte. Kugler erkennt zwar dieSchönheit vonGeschwisterblut an, konstatiert dann jedoch un­umwunden:Aber das Ganze, wie es ist, darf meo voto 15 nicht existieren ich bin hier entschiedener Terrorist. Es ist häßlich, und der Anfang viel mehr noch als der Schluß. Kugler tadelt an dem Anfang des Stormschen Gedickts das ihmwiderwärtige Verhalten oder doch Nicht­verhalten des Sinnlichen und fordert, daß die Handlung am Schluß in irgendeinen wüsten, jenes frevelhafte Spiel rächenden Graus Um­schlagen müßte. Er erwartet also Sühne und den Sieg der Sittlichkeit.

Indem Kugler dann offenbar auf die von Storm gegenüber Eggers geäußerte Theorie der Triebbedingtheit des Inzestverbots eingeht, warnt er Storm:Es kommt vor, daß Sie [...] veranlaßt werden, gefährliche