sittliche Probleme zu ersinnen, die Lösung derselben statt geradezu mit der Naivität des Gefühles (die doch sonst Ihre Sache ist) mit dem Raisonnement des Verstandes (ich sage nicht: der Vemuft) bewerkstelligen, diesem kalt und äußerlich Gemachten das duftige Gewand Ihrer Poesie umhängen und somit Dingen Leben geben, die — und zwar aus dem ersten und gerechtesten, dem sittlichen Grunde — kein Recht zur Existenz haben. Dies ist etwas Pathologisches, oder deutlicher: etwas Krankes, Unechtes, das ich aus Ihrer Poesie fortwünsche.“ 16 Auf Kuglers Standpunkt steht übrigens auch Friedrich Eggers, der in seinem Brief an Storm vom 10. März 1853, entsetzt darüber, daß in Storms Gedicht „zwei leidenschaftlichen Menschen Blutschande“ droht und sie, da der Konsens des Papstes ausbleibt, „die Sünde auf ihre eigene Rechnung“ wagen wollen, ausruft: „Wie kann man das zum Gegenstand eines Kunstwerkes machen? Wie kann man mit Mitteln einer Stormschen Muse den jammervollen Fall verherrlichen? Mit welchen Gründen wollen Sie eine solche Behandlung des Stoffes ästhetisch rechtfertigen, namentlich, da Sie sich nicht außerhalb unserer christlichen Anschauung stellen?“ 17
Kugler und Eggers sprechen also klar aus, daß die ästhetischen Gesichtspunkte („Schönheit und Kraft der Leidenschaft“) sich den ethischen Normen, die im Christentum begründet sind, und damit der herrschenden Moral unterzuordnen haben. Und dies umso mehr, als sie im Unsittlichen zugleich das Häßliche erblicken. Daß, was das Christentum angeht, „Geschwisterblut“ zum Gegenteil tendiert, ist Storm wohl bewußt, denn er selbst nennt den Schluß des Gedichtes „sehr heidnisch“ (Brief an Mörike vom 2. Dezember 1855) 18 . Nicht zuletzt daher rührt die ungewöhnlich heftige Opposition Kuglers und Eggers’.
Ihre Auffassungen entsprachen jedoch denen der Majorität des „Tunnels über der Spree“. Im „Tunnel“ mußte daher Storms Gedicht nicht nur abgelehnt, sondern verworfen werden. Und das geschah auch.
Das Gedicht wurde im „Tunnel“ in der ersten, in Eile 19 geschriebenen Fassung vorgetragen, die die Leidenschaft der Schwester noch stärker zum Ausdruck brachte. Allerdings, obwohl Storm nach der Lesung auf Friedrich Eggers’ Einwände hin eine Überarbeitung vorgenommen und eine zweite, leicht gemilderte Fassung geschaffen hat (die Ende 1854 gedruckt worden ist), unterschied sich doch die erste Fassung nicht grundsätzlich von der zweiten 20 . Das abschließende Urteil des „Tunnel“ über „Geschwisterblut“ gibt Fontane in seinem Protokoll vom 13. Februar 1853 wieder: Trotz Anerkennung verschiedener Vorzüge „brach man um des völlig verfehlten und beinahe widerwärtigen Schlusses willen den Stab über das Ganze und bezeichnete es als eine freilich talentvolle, dennoch aber durchaus verwerfliche Arbeit.“ 21 Diesem Urteil schloß sich auch Fontane an, der am 8. März 1853 an Storm schrieb: „Ich bekenne freimütig, daß ich mit der Majorität war und bewunderte und — verwarf.“ 22
Neben der Mehrheit gab es allerdings eine Minderheit, die sich für das Gedicht Storms aussprach und sich mit großem Nachdruck dafür ein-