Heft 
(1977) 26
Seite
148
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setzte. Friedrich Eggers berichtete Storm darüber am 10. März 1853: Ihre Arbeit hatte die größte Wirkung. Ich mußte noch einmal lesen und die letzte Hälfte noch einmal. Die lebhafteste Erörterung schloß sich an, und ich habe niemals Himmel und Hölle so nah beieinander gesehen. Man wurde sehr warm, die einen hoben das Gedicht bis an die Sterne, kamen an den grünen Tisch gelaufen, um sich Prachtstellen nochmal einzuprägen [.. .] 2! . Doch vermochten sich die Anhänger Storms nicht durchzusetzen.

Stanislaw Oswiecim dagegen stand dem Geschmack desTunnels näher. Allerdings konnte auch Kuglers Ballade keine positiv urteilende Mehrheit finden, aber es kam wenigstens zu einem Unentschieden, nicht zu einer Ablehnung.Die Urteile darüber, schreibt Fontane im Sitzungs­protokoll vom 2. Januar 1853,gehn in erstaunlicher Weise auseinander und füllen die tiefe Kluft zwischen ,Schlecht 1 und ,Sehr gut vollständig aus 24 . Im einzelnen berichtet Fontane:Die Angreifer tadelten die Wahl des ganzen Stoffs, die Widerwärtigkeit einer solchen Liebe, die behagliche Schilderung eines verworfenen Papsttums und die auf bloßen Zufall hinauslaufende Lösung des Konflikts. Die Verteidiger und Lob­spender meinten hingegen: Der Stoff sei ganz famös, Geschwisterliebe sei keineswegs widerwärtig, die Schilderung des Papsttums halte sich innerhalb der Schranken einer gewissen Wohlwollenheit, und die Lösung des Konflikts, d. i. der Tod der Schwester, sei keineswegs ein Zufall, sondern habe seine tiefe sittliche Notwendigkeit. Die streitenden Parteien kamen zu keiner Einigung 25 .

Das hing allerdings, wie Fontane dann erläutert, auch damit zusammen, daß religiöse Fragen (Kritik am Papsttum) mit im Spiele waren, über die eine Einigung sowieso ausgeschlossen war.

Immerhin wurdeStanislaw Oswiecim nicht einfach abgelehnt und schon gar nicht verworfen. Ja, Kugler hatte die Genugtuung, daß eine starke Majorität desTunnels, nachdem Kugler seine Ballade vor der Verlesung des Stormschen Gedichtes des besseren Vergleiches wegen noch einmal vorgetragen hatte, ihm bestätigte,daß man bei der ersten Lesung [...] strenger als nötig verfahren und mit dem Tadel zu stark ins Zeug gegangen war, wie aus Fontanes Protokoll vom 13. Februar 1853 zu entnehmen ist 26 .

In der unterschiedlichen Bewertung der Gedichte Kuglers und Storms widerspiegeln sich die politischen und ästhetischen Auffassungen des Tunnels über der Spree. In seiner Mehrheit preußisch-konservativ, dem Liberalismus allenfalls zugeneigt, wenn er als zahmerer Altlibera­lismus auftrat, war derTunnel (von einer Minorität abgesehen) nicht willens, dem sich gegen die Gesellschaft stellenden Individuum jenes natürliche Recht zuzugestehen, das Storm forderte. Und ebensowenig wollte die Majorität in der Dichtung einen Konflikt zwischen Sittlichkeit und Leidenschaft zulassen, wenn nach ihrer Überzeugung die Sittlichkeit allein zu entscheiden hatte. Darüber hinaus stieß aus ästhetischen Grün­den das Inzestthema als dichterischer Stoff überhaupt auf den Wider­stand eines größeren Teiles derTunnel-Mitglieder.