Heft 
(1890) 38
Seite
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Lindenöerg und seine Stroliliulmdustrie.

Mit Zeichnungen voll K. Kcrrrfmcrnn.

alle jene Gewerbe, welche sich in den Dienst der Mode gestellt haben, ist auch die Strohhutindustrie nervös und raschlebig. Ja, sie ist es um so mehr, als auch das jeweilige Wetter einen oft ganz unberechtigten Einfluß ausübt. Nach einigen Sonnentagen im zeitigen Frühjahr kommen die Aufträge nur so in die Fabrikcomptoire hereingeschneit, und wenn dann einige Regentage folgen, werden sie nur zu häufig mit demselben Eifer wieder zurückgenommen, als ob es nie mehr aufhören würde, zu regnen.

Diese unsicheren Zustände sind wohl die Ursache, daß sich die Strohhuterzeugung hauptsächlich in den Großstädten festsetzte. Der Fabrikant muß in engster Fühlung mit der modemachenden fashionablen" Welt bleiben, und nur die großen Verkehrsmittel­punkte gestatten ihm, die Vortheile des guten Wetters möglichst schleunig auszunützen und die Nachtheile der schlechten zu ver­ringern. Dresden, Breslau, Köln, Frankfurt, Berlin, Hamburg, Stuttgart sind die Hauptorte der deutschen Strohhutindustrie.

Aber es kommt auch das Entgegengesetzte vor. Im Erz­gebirge, im Schwarzwald, im schlesischen Gebirge und besonders im bayerischen Allgäu finden wir weitabgelegene Ortschaften, in welchen Strohhüte in großen Mengen erzeugt werden. Man ver­fertigt hier ziemlich viel Stapelsachen, d. h. vielbegehrte Hutformen, die sich meist einer besonderen Kleidsamkeit rühmen dürfen. Es sei hier nur an zwei solcher Stapelformen erinnert, die eine ganze Reihe anderer Hutmoden überdauert haben und die daher wohl jeder Dame bekannt sein werden: es ist das die Pamelaform und der Florentiner Schäferhut. Aber auch die laufenden Moden lassen immer gewisse Typen erkennen, für welche ein größerer, länger andauernder Absatz vorauszusehen ist. Das sind, neben den Männer- und Kinderhüteu, welche weniger in der Mode wechseln, die Artikel, welche für die Herstellung abseits der Verkehrsmittel­punkte geeignet sind.

Der weitaus bedeutendste aller Strohhutorte ist Lindenberg im Allgäu, welches heute den Lesern im Bilde vorgeführt wird.

Wo sich die Vorberge der Alpen nach dem Bodensee herab­senken, unweit Lindaus, liegt der saubere freundliche Marktflecken mit seinen vielen neuen, hübschen, meist aus Holz gebauten Häusern auf einer rauhen, gegen Norden offenen Hochebene aus­gestreut. Das Klima bannt in solchen Höhenlagen die Bewohner beinahe die Hälfte des Jahres an den wärmenden Kachelofen, und auch hier wie überall unter ähnlichen Verhältnissen hat man schon zu Urväterzeiten eine gesellige Arbeit ergriffen, um sich damit über die langen Winterabende hinwegzuhelfen. Ur­sprünglich'fertigte man hier nur ein grobes Geflechte, das zu ' großen Schutzhüten vernäht wurde, wie sie die Bauern gern zur Erntezeit tragen; die Strohhuterzeugung bildete eben nur eine Nebenbeschäftigung der Bewohner. Heute aber ist Lindenberg einer der wichtigsten Erzeugungsorte für Strohhüte und als solcher welt­

bekannt ge­worden. Es zählt etwa 30 größere und kleinere Stroh Hut­fabriken (im gan­zen besitzt das All­gäu deren etwa 45, welche sich außer Lindenberg auf die Ortschaften Goß- Holz, Scheidegg, Heimenkirch, Oberstaufen, Simmerberg und Opfen­bach vertheilen), und man spricht davon, daß im Vorjahr allein von Lindenberg aus über zwei Millionen Menschen unter den Strohhut gebracht worden sind; wenn wir in Betracht ziehen, daß etwa 8 Monate lang an 800 Strohhutnähmaschinen unauf­hörlich schnurren und surren und 66 hydraulische Pressen Stroh­hüte ausformen, so dürfen wir diese Zahl eher als zu niedrig ausehen. Das kleine Lindenberg nimmt unter rund 1500 baye­rischen Postorten etwa die 80. Stelle ein, was bei seiner Ein­wohnerzahl von nur 2200 einen riesigen Verkehr bedeutet.

Die auffällig rasche und eigenartige Entwickelung Lindenbergs fällt mit zwei wirthschaftlichen Vorgängen zusammen, welche sich ihrem Wesen nach schroff gegenüberstehen. Der eine war die Ende der siebziger Jahre erfolgte Zollerhöhung auf ausländische Strohhüte, der andere dagegen eine wichtige Erweiterung des Welthandels durch die Einfuhr chinesischer Strohgeflechte. Einer­seits war England, welches allein als Einführer von Strohhüten in Frage kam, sehr bald auf unserem deutschen Strohhutmarkt durch die Zölle unmöglich geworden, andererseits aber hätte unser eigenes Gewerbe die Vorliebe des deutschen Volkes für den Stroh- hut nicht befriedigen können, wenn glicht die Herren Zopfträger weit hinten in Asien mit ihren unglaublich billigen Geflechten zu Hilfe gekommen wären. Allgäu, Schwarzwald und Erzgebirge zu­sammen können mit ihren etwa 30 000 Flechtern in einem Winter nicht die Menge liefern, welche in Shanghai in einer einzigen Woche nach Europa verfrachtet wird. Die menschenüberfüllten Provinzen Petschili, Schantung und Honan im Nordosten Chinas liefern das Geflecht in Mengen, als wenn es dort fertig wüchse, nach den Vertragshäfen, von wo es meist als Ballast sieben Meere durchschwimmt; und etwa sieben Mal wechselt es den Be­sitzer, ehe es sich in Hutform auf dem Kopf einer Schönen in einem europäischen Spiegel erblickt. Trotz dieses Manderns von Hand zu Hand aber ist es immer noch so billig, daß kein europäisches Geflecht, es sei denn das allergeringste, im Preise mit dem chine­sischen in den Wettbewerb eintreten kann. Man hat berechnet, daß ein chinesischer Flechter unmöglich mehr als 10 Pfennige den