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Donner, denk' nur!" berichtete Annie. „Ich weiß es noch wie heute, — und Thea wird's auch wissen, nicht wahr? — wie mein Vater mich einmal hier all derselben Stelle, wo ich jetzt sitze, auf seine Kniee hob, während es draußen noch viel ärger tobte als heute. Und ich fühlte sein Herz ruhig und gleichmäßig gegen mein kleines, verängstigtes Kinderherz schlagen, — ich kann höchstens sechs Jahre alt gewesen sein — und er sagte mir, im Donner spreche Gott zu uns — er selber sei allgewaltig, darum auch seine Stimme, mit der er uns anrede — wir dürsten aber darum nicht erschrecken, nur Ehrfurcht empfinden vor ihm. Und wie ich allmählich ruhiger wurde, fragte der Vater mich, ob ich mich noch fürchte — und ich sagte: ,Nein — weil Du bei mir bist!' Da küßte er mich und hielt mich fest an sich und sagte zuletzt: .So denk' immer, wenn Du den majestätischen Donner hörst, Dein Vater ist bei Dir und hält Dich an seinem Herzen.' — Das thue ich auch wirklich! Ich wollte, Du hättest unfern Vater gekannt, denn soviel ich Dir auch von ihm erzähle, ein rechtes Bild wirst Du doch schwerlich von ihm bekommen! Bitte, erzähl' Du uns auch einmal recht ausführlich von Deinem Vater! Du hast das bisher noch nie gethan!"
Sie hatte freimüthig und unbefangen gebeten wie ein liebenswürdiges Kind, das der Erfüllung seines Wunsches zum voraus sicher ist. Um so mehr erschrak sie über seine Antwort.
„Wenn ich das bisher niemals that, so hatte ich meine Gründe dafür! Mein Vater war ein unglücklicher Mann, meine Kindheit freudlos, meine erste Jugend hoffnungslos vergiftet. Wenn Du mich liebst, frage mich nie mehr danach!"
Ein betäubender Donnerschlag brach los und überhob Annie der Antwort; sie hätte auch schwerlich eine gefunden, ihr liebliches Gesicht war blaß geworden, und wie schuldbewußt hielt sie die Augen gesenkt. Thekla aber sah unverwandt und aufmerksam in Delmonts Gesicht, und sie gewahrte dort den Ausdruck, dessen sie vorhin gedacht —> den Ausdruck innern Kampfes, der alsbald an der innern Mutlosigkeit erlischt! — Er beugte sich jetzt herab und berührte mit seinen Lippen Annies Haar, küßte dann auch leise ihre Hand, als wollte er sie um Verzeihung bitten; sie lächelte ihm beruhigend Zu, aber in ihren Augen stand ein besorgter Ausdruck.
An den Fensterscheiben troff der Regen gußweise hernieder; man vermochte nichts mehr draußen zu sehen, in solchen Strömen schossen die grauen Wasserstrahlen herab. Man hörte in den Pausen, die der Donner machte, nur das Aufklatschen des Regens auf die Zinkplatten der Fenstervorsprünge und das Sausen des Windes, der um das Haus stöhnte. Im Zimmer war es so finster, daß man hätte Licht anzünden können.
„Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein Thekla?" fragte Delmont, da er die Kranke mit geschlossenen Augen sich in ihren Sessel zurücklehnen sah.
„Nichts von Belang, ich danke, Herr Professor!" gab Thekla zurück. „Nur etwas Mattigkeit infolge der Gewitterschwüle von zuvor!"
Es war Annies steter Kummer, daß diese zwei Menschen, die liebsten, die sie hatte, nicht vertraulicher mit einander standen. Die förmliche Anrede, das steife Sie verletzte ihr zärtliches Ge- müth, aber umsonst war sie bestrebt gewesen, das zu ändern, ruhig und kühl hatte jedes der beiden den Vorschlag einer Abänderung, den sie jedem einzeln gemacht hatte, von sich gewiesen.
Im Hintergründe des Zimmers knarrte leise eine Thür. Die alte Agathe erschien, ein dampfendes Glas in der Linken, das eine weißschäumende Flüssigkeit enthielt; mit der Rechten winkte sie Annie zu sich herüber.
„Du guter, alter Hausgeist hast mir richtig Eiergrog brauen müssen, im festen Glauben, ich hätte mich erkältet!" rief das junge Mädchen lachend. „Kommst Du denn nicht näher mit Deinem Gebräu? Ich soll zu Dir kommen? Mir auch recht! Aber Agathe," -— sie war inzwischen aufgestanden und hinübergegangen und flüsterte nun der Alten ins Ohr — „wirst Du denn gar nicht für meinen Verlobten sorgen?"
Die alte Frau warf den Kopf zurück.
„Ach, so einem Herrn schadet das bißchen Regen noch lange nichts. Aber Du, mit dem dünnen Sommerkleide und den leichten Halbschühchen ... sie schlagen durch, die kleinen Schuhe, ich weiß es genau, sie haben Leder und Sohlen wie von Postpapier, und dazu die seidenen Strümpfe! Wenn Du Deine Alte noch
ein bißchen lieb hast und nicht auf den Tod betrüben und ängstigen willst, dann bist Du mein süßes, artiges Vögelchen und trinkst Deinen Grog und wechselst in Deinem Zimmer die Fußbekleidung — ja?"
Annie sah in die treuen, besorgten Augen und nickte; mit einem freundlichen: „Gleich bin ich wieder da!" gegen die beiden am Fenster verließ sie mit Agathe das Zimmer.
Noch nie war Thekla mit Delmont allein gewesen; immer war Annie als vermittelndes Element dazwischen getreten. Es war Thekla zu Sinn, als müßte sie ihn manches fragen, ihm vieles sagen aber es würde nichts nützen, er war der Mann nicht, zu antworten, wenn er nicht wollte. Da sie ein gleichgültiges Gespräch mit leeren Redensarten nicht führen wollte, so schwieg sie lieber ganz.
Er beobachtete sie von der Seite, wie sie erschöpft und blaß mit übereinandergelegten Händen in ihren Kissen ruhte, in keinem einzigen ihrer scharfgeschnittenen, früh gealterten Züge die flüchtigste Ähnlichkeit mit der jungen, schönen Schwester zeigend. Die Stirn trat, wie von vielem Denken herausgearbeitet, in fester Wölbung hervor, die Augen sahen klug und überlegend drein, um die Lippen lagerte ein scharfer Schmerzenszug — aber Theklas Blick schien beständig zu sprecheu: „Bemitleidet mich nicht, ich weiß damit nichts anzufangen!"
Plötzlich unterbrach Delmont das drückende Schweigen mit den Worten:
„Nicht wahr, ich bin Ihnen als zukünftiger Schwager unwillkommen?"
So ganz aus Theklas tiefinnerster Stimmung heraus hatte er gesprochen, daß sie ihm, nicht im mindesten überrascht, ruhig antwortete:
„Nein — vielmehr ja — meiner Astnie dereinstigen Mann hatte ich mir anders vorgestellt!"
Er hatte ein spöttisches Lächeln um die Lippen.
„Es thut mir leid, diesem Ihrem Phantasiegebilde nicht zu entsprechen — wie sah dies aus, wenn ich fragen darf?"
Sein scharfer Ton fand ein Echo an dem ihrigen.
„Sie thun mir zuviel Ehre an, wenn Sie mir Phantasie Zutrauen; ich hielt Sie für einen zu guten Beobachter, als daß Sie nicht hätten wissen sollen — ich habe keine Phantasie! Träume, Schwärmereien, Einbildungen — was soll ein Wesen wie ich damit anfangen? Aber Annie habe ich lieb, ihr Glück Liegt mir am Herzen, und ich hatte gedacht, sie würde eine andere Wahl treffen —"
„Etwa den Lieutenant von Conventius erhören!" fiel er ein.
„Das glauben Sie ja selbst nicht," gab sie ruhig zurück, „warum also sprechen Sie es aus? Der Ulanenlieutenant ist eine liebenswürdige, offene, einnehmende Natur, aber er hat es leider versäumt, seinen Geist und Charakter zu vertiefen und zu bilden, obschon er sehr gutes Material dazu hatte. Eiu solch' lustiger Bruder konnte Annie niemals gefährlich werden, ich hätte ihn ihr, trotz meines persönlichen Wohlgefallens an seiner munteren Frische, nie gewünscht —"
„Desto mehr seinen Vetter Reginald, den großartigen Pfarrer von Sankt Lukas — nicht wahr?" unterbrach Delmont sie von neuem.
„Warum sprechen Sie in diesem Ton von ihm?" gab Thekla , ernst zurück. „Warum nennen Sie ihn so geflissentlich den ,groß- ! artigen' Pfarrer von Sankt Lukas, ihn, einen Manü, der sich gerade ^ durch die ungewöhnliche Schlichtheit seines Auftretens auszeichnet?"
^ „Nun — die ganze Stadt klingt ja bereits von seinem Lobe ! wieder — bis zu Ihnen werden diese Gerüchte nicht dringen, man wird es absichtlich vermeiden, Ihnen jetzt von ihm zu sprechen — ich höre desto mehr! Nicht nur die Unmündigen und Einfältigen singen sein Lob, nein, auch die Erleuchteten im Geist reden in Zungen von ihm. Adel, hohe Beamtenwelt und Finanzkreise umlagern seine Abendmahlsspenden, er muß die Gläubigen, die in Hellen Haufen herbeiströmen, zurückweisen — die Thür seiner Wohnung steht nicht still — schöne Frauen mit feuchten Augen, verschämte junge Mädchen, die sich angeblich mit ihrem Glauben nicht zurechtfinden, Leute aller Gattung, vom ordensbesternten Geheimrath bis zum Handwerker, streiten sich um die Gunst dieses Wundermannes, man hat ihm jetzt bereits mehr Konfirmanden angemeldet, als er überhaupt annehmen kann, — die Kirche von Sankt Lukas kanu die Gläubigen nicht fassen."