394
Georg schien es, als wäre die Zeit noch nie so langsam und träge hingegangen.
In all den letzten Jahren hatte er stets kleine Ziele vor sich gesehen, die ihm große Feste für seine Sehnsucht waren. Bald war's das Wiedersehen mit dem armen Hans, der sonntägliche Besuch bei dem Freunde, dann ein Zusammensein mit Sephi und Herrn Gerold — zuletzt die Hoffnung auf Sephis Wiederkunft. Und tausend heimliche Gedanken, tausend phantastische Wünsche hatten sich für ihn stets mit diesen kleinen Zielen verknüpft und hatten sie bedeutungsvoll gemacht für sein ganzes Fühlen und Dasein. Was er Erhebendes und Großes gesehen und erlebt hatte in all dieser Zeit, das wuchs aus ihnen auf '— was er an Zukunftsträumen in seinen Knabengedanken aufgebaut hatte, das kam aus ihnen, und das mußte verblühen und verdorren, wenn die Wurzeln keine neue Nahrung mehr bekamen.
Und nun war's aus. Nun stand er einsam und mit leeren Händen da. Das alles lag jetzt weit hinter ihm, und nur in der Erinnerung konnte er es wieder aufleben lassen — ein blasses Leben sehnsüchtiger Träume und hoffnungsarmer Wünsche.
Die Zeit vor ihm erschien Georg ziellos leer, ein Heimweh nach den Menschen fraß in ihm, die ihm durch so viel Jahre all' das ersetzt hatten, was anderen Knaben seines Lebensganges die Freundschaft gleichaltriger Kameraden ist, was ihnen Vaterliebe und Geschwisterliebe geben.
Jetzt erst erkannte er so ganz, was ihm Herr Gerold und Sephi gewesen waren.
Gewiß, ihm blieb die Mutter, und sie war ihm das Höchste, war ihm teuer über alles. Er kam sich beinahe schlecht vor, daß er sich damit nicht zufrieden geben konnte. Sie war so gut, und wenn sie ihm einen Wunsch nur an den Augen absah, dann war er sicher, sie erfüllte ihn, wenn sie es irgend konnte. Er fühlte, wie aus ihrer Zärtlichkeit, die ihm so Wohltat und die er jetzt doch so ganz anders, so ganz neu empfand, der Wunsch sprach, daß er nichts entbehren möge. Still und mit steifer Unbehilflichkeit ließ er, der früher so ganz aufgegangen war in seiner Mutter, deren Liebkosungen über sich ergehen. Schweigsam und ungelenk blieb er auch, wenn er mit der Mutter des Sonntags spazieren ging, in den Stadtpark, in den Volksgarten und ein paarmal sogax in den Prater.
Öfter in dieser letzten Zeit schloß sich Herr Franz Schneeberger der Frau Marie Bang und Georg auf solchen nachmittägigen Spaziergängen nun an. Er hatte an diesen Tagen sogar die regelmäßige Sonntagssitzung im Kaffeehause, wo er nach Tisch seinen „Schwarzen" trank und die Zeitungen las, abgekürzt und auf die Siesta zu Hause, auf dem bequemen Ripssofa, ganz verzichtet. Würdig und feierlich anzusehen in seinen schwarzen Sonntagshosen, stieg er dann neben Georgs Mutter einher und sprach mit Bestimmtheit und Ausdauer auf sie ein. Herr Franz Schneeberger war in Hinsicht auf seine gesellschaftliche Gewandtheit im Laufe des nun so viel Jahre langen Verkehrs mit Frau Bang entschieden umgänglicher und sicherer geworden. Die wortkarge Art, die ihm erst angehaftet und die nur zeitweilig von Ausbrüchen seines Bedürfnisses, sich mitzuteilen, durchstoßen worden war von Ausbrüchen, auf die dann stets ein Rückschlag, ein neuer Zeitraum schweigsamer Verpuppung folgte, hatte er abgestreift. Nur manchmal kam ein Rückfall in dieses alte Wesen. Im ganzen aber war er ihm entwachsen; dm enge Anschluß an Frau Bang, die mit Georg nun in seinem Lebenskreise eine in gleicher Weise große Rolle spielte wie er in ihren:, hatte ihm jene einsiedlerische Scheu genommen. Die Frau, die ihm sein häuslich stilles Dasein mit so viel Sorgfalt behaglich Zu gestalten wußte, die seine Stube, seine Wäsche und Kleider peinlich in Ordnung hielt, seine kleinen Schwächen so genau kannte und respektierte, hatte nun sein Vertrauen im vollen Maße. So kam es denn, daß er .auch all die kleinen Vorgänge in der Antiquariatsbuchhandlung I. Tiburtius ihr mitteilte, daß sie von allem
wußte, was er im Geschäft erlebte. Sie kannte seinen Chef und dessen Sohn und alle die Kollegen in ihren Eigenarten aus diesen Schilderungen so genau, wie wenn sie selbst sie kennte: den Herrn Felix, „den jungen Schnüffel, der immer wie ein Gigerl umeinanderrennt", und den alten Herrn Tiburtius, „der für einen Chef eigentlich ein ganz anständiger Mensch is'". Sogar die beiden Hausknechte — den Joseph, der eine verheiratete Tochter in Paris hatte, und den Schackerl — hätte Frau Bang, nach dem, was sie von ihnen wußte, aus Tausenden herausgefunden. Und daß sie fürsorglich und teilnahmsvoll auf alle Wünsche und Klagen des Herrn Schneeberger einging, daß sie auf seinen Rat in allen Fragen hörte und sich an ihn um seine Meinung wendete, wenn ihr das Leben neue Sorgen auf den Weg gesäet hatte, das tat ihm ganz besonders wohl. Hier war ein Mensch, der ihn gebrauchen konnte und der ihn schätzte — ihn, den Entwurzelten und Unbeachteten. Mit einem Ausdruck, wie
wenn er sich ärgerte über die Störung, und doch mit mühsam nur verhaltener Spannung hörte er in solchen Fällen ihre Fragen an. Und mürrisch, doch gut gemeint kamen dann seine lapidaren Antworten, gegen die es keinen Widerspruch gab, die, als der Extrakt seiner bald fünfzig arbeitsschweren Jahre, für Frau Marie Bang die Kraft von Entscheidungen hatten.
Manchmal auch, wenn er trotz allen: noch etwas wie leises Fragen, ein Sinnen in den Augen von Frau Bang zu sehen glaubte, oder wenn sie ihm gar mit einer Sache kam, in der er selber nicht recht sicher war, dann konnte Herr Schneeberger seiner Partnerin auch wohl einmal eine kleine Rede herunterpoltern, in der er meist mit kurzen philosophischen Betrachtungen über die Grenzen des weiblichen Fassungsvermögens begann und dann bald voll Empfindlichkeit in selbstironisierenden, wegwerfenden Worten auf sich selbst zu sprechen kam.
Frau Bang aber, die wußte, daß aus all der verbitterten Empfindlichkeit ein Mensch sprach, der ihr Gutes geben wollte, ließ seine Redensarten dann mit leisem Kopfschütteln über sich ergehen. Und wenn er zum Schluffe allzuschlimm gegen sich selbst wütete, dann lenkte sie beruhigend und schützend ein. Mitleid, das sich ihr unbewußt im Herzen regte, vermengte sich ihr mit den: Drange, ihm zu sagen, daß er ihr und>dem Georg wirklich wert und lieb geworden war. So kam dann stets ein Ende voll von Frieden nach solchen Auseinandersetzungen.
„Passen S' auf, Frau Bang, i' wer' Jhna was sagen! Wann i' sag', daß der Georg für den Buchhandel passen tät', so weiß i' sehr genau, warum daß i' das sag'! Und ekschpliziert Hab' i's Ihnen jetzt langmächtig. Aber das is' wieder amal echt! Da sicht ma' wieder amal, was das für an Wert hat, wann ma' mit einer Frau über sowas red't. — Ich bitt' — nehmen S' das nicht persönlich, Frau Bang — das is' halt amal so — Naturgesetz. ,Eitra und so
weiter, sagt der Lateiner. Frauenzimmer und a ernster Dischkursch — das is', wie wann S' dem Guschelbauer sagen täten, er soll den Hamlet spül'n im Burgtheater — kann er halt net! Wissen S', Frau Bang — kann er net — gibt's net — wann er noch so schwitzen tät' dabei — es tät' doch wieder cher alte Drahrer^ werd'n! Akkurat so geht's bei die Frauenzimmer a. — Und dann, natürlich — wenn i' was sag, das hat kein' Wert. Was i' red', das is' Unsinn! Geh'n S', i' weiß ja eh, was' Jhna denken! — Was woll'n S' sagen? — 's wär' net wahr? — Aber i' bitt', hör':: S' mir auf, Frau Bang! Weil i's net weiter 'bracht Hab' im Buchhandel, meinen S', dem Buben tät's amal g'rad so geh'n. Natürlich — ha'm scho' recht! Wann's a anderer g'sagt hätt' — vielleicht der Herr Gerold, wenn er noch leben tät' — dann wär's gut g'wesen — aber so —- wann's bloß i' sag' ..."
„Aber Herr Schneeberger — so Hab' ich das doch gar nicht g'meint. Ich Hab' doch nur g'sagt, daß' heutzutag