Heft 
(1985) 40
Seite
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wechselte? 88 Was konnte anderes dabei herauskommen, als sich von Fall zu Fall neu einzustellen, je nach Situation zu entscheiden, diepreußische Idee zu modifizieren und dem Wandel der Verhältnisse anzupassen? Die Massengesellschaft machte vor der Denk- und Verhaltensweise des einzelnen nicht halt. Sie schuf sich ihren Typus, führte die Bürokratie zur Macht, bewirkte mit dem Grundsatz der Gleichheit zugleich die Normierung, ebnete nicht nur regionale Unterschiede ein, sondern ver­zichtete zugleich auf große Charaktere, auf die hervorragende Einzel­persönlichkeit. Dennoch, mochte Fontane auch noch so kritisch mit der preußischen Idee d. h. mit ihren oft bis zur Unkenntlichkeit verform­ten Gehalten ins Gericht gehen, niemals war er bereit, das Verfalls­produkt derpreußischen Idee ä la Schulze, ihre Parodie oder, um mit J. G. Droysen zu sprechen,den letzten Moment zum Maß aller früher durchlebten Phasen zu erheben. Selten ist der Preußenkritiker Fontane, sich Theodor Storms erinnernd, überzogener Preußenkritik schärfer ent­gegengetreten als im Winter des Jahres 1894/95. Damals notierte er:Was wir Altpreußen uns auf diesem Gebiet gefallen lassen müssen und tat­sächlich beständig gefallen lassen, spottet jeder Beschreibung. 89Wir Altpreußen, so bekannte er, derbis zuletzt ein »-Aristokrat-« im Bürger­rock 90 blieb undwahres Preußentum unerbittlich in die Pflicht von Humanität und Gesinnung nahm. Gewiß kann man das Fragment eine Philippika nennen, eine Schlußabrechnung jedoch nicht. Es lohnt sich, noch einmal nachzulesen, wasDie Zeit am 7. März 1947 wenige Tage nach der Auflösung Preußens durch alliierten Kontrollratsbeschluß schrieb: Der preußische Staat war ein Gebilde von solcher Dauer und solcher Wirkungskraft, daß er sich nicht einfach in einem extremen moralischen Werturteil, noch weniger in einem Mythos einfangen läßt. Der Erkennt­nis wird weit besser gedient, wenn man nach der historischen Funktion fragt, die Preußen innerhalb der gesamtdeutschen Geschichte zukommt. 91

Anmerkungen

Zitiert wird nach Theodor Fontane: Sämtliche Werke. München 1959-1975, Band 1-24 (Nymphenburger Ausgabe), abgekürzt: NFA. Die Briefstellen sind - soweit mög­lich der Hanser-Ausgabe: Theodor Fontane: Briefe, Band 14, München 19761982 entnommen, abgekürzt HA.

1 Eyssen, Jürgen- Fontanes vergessene Prosa. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Juni 1967.

2 Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975, S. 1Ü7.

3 Nürnberger, Helmuth: Der frühe Fontane. Hamburg 1967, S. 71.

4 Schober, Kurt: Theodor Fontane. In Freiheit dienen. Herford 1980, S. 16.

5 Wruck, Peter: Fontanes EntwurfDie preußische Idee. Fontane Blätter Band 5, Heft 2, S. 169 ff.

6 NFA 24, S. 148 f.

7 NFA 24, S. 149.

8 Wie Anm. 7.

9 Ha 4, s. 564. Th. Fontane an Mete am 10. Juni 1896.

10 NFA 9, S. 175.

11 Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgew. u. erl. v. Gotthard Erler. Berlin und Weimar 1980. Band 1 , S. 403 f.

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