wechselte? 88 Was konnte anderes dabei herauskommen, als sich von Fall zu Fall neu einzustellen, je nach Situation zu entscheiden, die „preußische Idee“ zu modifizieren und dem Wandel der Verhältnisse anzupassen? Die Massengesellschaft machte vor der Denk- und Verhaltensweise des einzelnen nicht halt. Sie schuf sich ihren Typus, führte die Bürokratie zur Macht, bewirkte mit dem Grundsatz der Gleichheit zugleich die Normierung, ebnete nicht nur regionale Unterschiede ein, sondern verzichtete zugleich auf große Charaktere, auf die hervorragende Einzelpersönlichkeit. Dennoch, mochte Fontane auch noch so kritisch mit der „preußischen Idee“ — d. h. mit ihren oft bis zur Unkenntlichkeit verformten Gehalten — ins Gericht gehen, niemals war er bereit, das Verfallsprodukt der „preußischen Idee“ ä la Schulze, ihre Parodie oder, um mit J. G. Droysen zu sprechen, „den letzten Moment zum Maß aller früher durchlebten Phasen“ zu erheben. Selten ist der Preußenkritiker Fontane, sich Theodor Storms erinnernd, überzogener Preußenkritik schärfer entgegengetreten als im Winter des Jahres 1894/95. Damals notierte er: „Was wir Altpreußen uns auf diesem Gebiet gefallen lassen müssen und tatsächlich beständig gefallen lassen, spottet jeder Beschreibung.“ 89 — „Wir Altpreußen“, so bekannte er, der „bis zuletzt ein »-Aristokrat-« im Bürgerrock“ 90 blieb und „wahres Preußentum“ unerbittlich in die Pflicht von Humanität und Gesinnung nahm. Gewiß kann man das Fragment eine Philippika nennen, eine Schlußabrechnung jedoch nicht. Es lohnt sich, noch einmal nachzulesen, was „Die Zeit“ am 7. März 1947 wenige Tage nach der Auflösung Preußens durch alliierten Kontrollratsbeschluß schrieb: „Der preußische Staat war ein Gebilde von solcher Dauer und solcher Wirkungskraft, daß er sich nicht einfach in einem extremen moralischen Werturteil, noch weniger in einem Mythos einfangen läßt. Der Erkenntnis wird weit besser gedient, wenn man nach der historischen Funktion fragt, die Preußen innerhalb der gesamtdeutschen Geschichte zukommt.“ 91
Anmerkungen
Zitiert wird nach Theodor Fontane: Sämtliche Werke. München 1959-1975, Band 1-24 (Nymphenburger Ausgabe), abgekürzt: NFA. Die Briefstellen sind - soweit möglich — der Hanser-Ausgabe: Theodor Fontane: Briefe, Band 1—4, München 1976—1982 entnommen, abgekürzt HA.
1 Eyssen, Jürgen- Fontanes vergessene Prosa. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Juni 1967.
2 Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland. Stuttgart 1975, S. 1Ü7.
3 Nürnberger, Helmuth: Der frühe Fontane. Hamburg 1967, S. 71.
4 Schober, Kurt: Theodor Fontane. In Freiheit dienen. Herford 1980, S. 16.
5 Wruck, Peter: Fontanes Entwurf „Die preußische Idee“. Fontane Blätter Band 5, Heft 2, S. 169 ff.
6 NFA 24, S. 148 f.
7 NFA 24, S. 149.
8 Wie Anm. 7.
9 Ha 4, s. 564. Th. Fontane an Mete am 10. Juni 1896.
10 NFA 9, S. 175.
11 Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgew. u. erl. v. Gotthard Erler. Berlin und Weimar 1980. Band 1 , S. 403 f.
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