Heft 
(1985) 40
Seite
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Neutralität aufgab und selber immer häufiger Partei ergriff, Kurswechsel vornahm und als Staatsdiener Leute vom Schlage Schutzes begünstigte. Erlahmt waren die schöpferischen, die reformerisehen Kräfte. Befehl und Gehorsam, Unterordnung und Anpassung, Stillstand und der Blick zurück beherrschten das Feld. Das unreflektierte Bestreben, am Herkömmlichen ungeprüft festzuhalten, ließ Tradition zum Traditionalismus erstarren. Kritische Auseinandersetzung mit dem Überlieferten war nicht gefragt. Pastor Lorenzen will da nicht mitmachen:Was einmal Fortschritt war, ist längst Rückschritt geworden. Aus der modernen Geschichte verschwin­den die Bataillen und die Bataillone ... An ihre Stelle treten Erfinder und Entdecker. 80 Das war Fontane aus dem Herzen gesprochen. Theodor Fontanespeußische Idee ist nicht zuletzt ein Dokument der Betroffenheit des Autors, der selber in dem großen Veränderungsprozeß zwischen Restauration, Revolution und Reichsgründung bis hin zum wilhelmi­nischen Deutschland so manches schmerzliche Zugeständnis hatte machen müssen. Fern allem restaurativen Denken griff er um der Gegenwart willen auf das alte Preußentum zurück, das er um so genauer zu durch­leuchten suchte, je mehr er echte Tradition bejahte. Er lehnte dabei, um mit Th. Adorno zu sprechen, denAberglauben an das Unvergängliche ebenso ab wie dieAngst vor dem Altmodischen. Sein spürbares Engage­ment zeigt, wie wichtig ihm der Gegenstand war. Noch war es nicht das Kunstwerk, der Roman, an dem er feilte, und so konnte er, gereizt, betroffen, leidenschaftlich angesprochen, wie er sich fühlte, notieren, was ihn bedrängte, mit Gedanken spielen, sich Stimmungen und Einfällen hin­geben. Jedoch hätten Fontanes Gerechtigkeitsgefühl, seine Kunstauffas­sung und nicht zuletzt seine humane Gesinnung es niemals zugelassen, Preußen lediglich zur Karikatur zu reduzieren. Seine Entscheidung, das Politische den Forderungen der Kunst zu unterwerfen, war damals längst gefallen. Sie bedeutete keine Abkehr vom Politischen, wohl aber vom politisierenden Zeitkritiker. Auch darin ist Nürnberger zuzustimmen, daß Fontane, je älter er wurde, desto mehr alles Politische kritisch und historisch betrieb 87 und, dies wäre hinzuzufügen, durch das Prismenglas der Kunst schickte. Ästhetisch vermittelte Rezepturen anzubieten, war seine Sache nicht, wohl aber im Medium der Dichtung Geist und Gesinnung seiner Zeit im Brennpunkt zu sammeln und kritisch zu sichten. Schutzes langjähriges Wirken als preußischer Beamter deckt sich völlig mit dem Erfahrungszeitraum, den Fontane selbst durchlebt hat. Es ist die Zeit der Umbrüche, Gegensätze, Neuansätze, der Widersprüche, der erfüll­ten und der enttäuschten Hoffnungen, der stürmischen Aufwärtsentwick­lung von Industrie und Handel, der bedrückenden Stagnation im gesell­schaftlichen Bereich, des Abschieds von patriarchalischen Verhältnissen, des Aufbruchs zu neuen Ufern, aber auch der Rodomontade, der Groß­mannssucht, des leeren Pomps und der hohlen Geste, des Brüchigwerdens aler Normen und Formen, des Infragesteliens wie des traditionalistischen Beharrens, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der restau­rierten Butzenscheiben, der Tradition und der Diskontinuität. Fontane wußte sehr wohl, wie schwierig es war. im Zerbröckeln Kontinuität zu wahren. Wie ließ sich Bedrohtes retten, wenn das Bedrohte ständig

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