Otfried Keiler (Berlin)
Zum Begriff „Literarisches Leben“, Neue Materialien und Ansichten zur Fontane-Forschung
Und aus der Schüssel, aus der 300.000 Deutsche essen, ess’ ich ruhig mit.
Fontane an die Redaktion der „Gartenlaube“ (15. 11. 1889)
I
Fontanes Gesamtwerk erschließen wir für eine breite Leserschaft. Neue Teilforschungen müssen auf ihren Wert für diese Erschließung befragt werden. Eine sMche Situation liegt vor, wenn heute nach den Leistungen von Literatursoziologie und Trivialliteraturforschung gefragt wird (Betz 1983: Fontane Scholarship, Literary Sociology, and Trivialliteraturforschung). Kein anderer Autor der Literatur des 19. Jahrhunderts habe von 1960 bis 1975 so sehr im Mittelpunkt des Interesses gestanden, meint Ch. Jolles im Anschluß an das Jahrbuch der Internationalen Germanistik (1980). Sie erklärt, dieser Trend halte an, und fügt hinzu: „Die Analyse der literarischen Vermittlungsprozesse rückt immer mehr ins Zentrum literarhistorischer Arbeit.“ (1984. S. XI) Ein neues Arbeitsfeld der Forschung ist damit Umrissen, das tief in das Werk Fontanes hinein und über dieses hinausreicht. Wir nennen es „Literarisches Leben“ (im folgenden = LL).
Der Begriff LL wird in jüngster Zeit häufig verwendet: ebenso vage und umfassend wie offen für die Aufnahme einst als peripher angesehener Erscheinungen (man denke z. B. an die Verlagsgeschichte als Teil der Literaturgeschichte). Bezeichnend scheint mir, daß eine frühe Äußerung H. Kreuzers die Eigenart des Begriffes Trivialliteratur mit einer Veränderung des Literaturbegriffes in Zusammenhang gebracht hat:
„Die Erforschung der Trivialliteratur tendiert damit zwangsläufig über sich selbst hinaus: Sie mündet in eine Untersuchung des literarischen Lebens einer Zeit.“ (1975, S. 18 f., Sperrung H. K.; vgl. Betz 1983, S. 204)
Auch für die Literaturgeschichtschreibung der DDR (vgl. Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 11 Bände = GDL), ein Gemeinschaftsprojekt, das mit den Bänden 8.1 und 8.2 1975 das 19. Jahrhundert beschreibt, wurde Anfang der 70er Jahre die Ausweitung des Literaturbegriffes notwendig und konzeptionsbildend. Im Begriff der „Literaturverhältnisse“ wurde versucht, „sowohl gegen die geläufige bürgerliche Sicht dieser Epoche (Sengle: Biedermeier) wie gegen eine lineare Konstruktion ideologisch-ästhetischer Fortschrittslinien in der marxistischen Betrachtung“ Front zu machen, indem ein weiter Begriff der Literarität angewandt wurde (Rosenberg 1977, Kliche 1985, S. 283), Alle Strömungen und Fraktionen der zeitgenössischen Literatur sind wichtig, will man Gipfelleistungen herausheben. Mehr noch: Das gesamte Geflecht von literarischer Kommunikation muß erforscht werden,