Heft 
(1879) 25
Seite
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p)aul Lindau in Berlin.

Gabriele steht im Begriffe ihre geachtete, aber im Grunde genommen fo wenig beneidenswerte Stellung anszugeben, und dem Geliebten, der ihr eine verführerische Zukunft zu bieten verspricht, zu folgen, ihren Mann, ihr Kind im Stich zu lassen. Der Advocat erfährt das und nimmt die Gelegenheit wahr, in sehr beredter Weise und mit unwiderleglicher Logik vor dem jungen Manne und vor seiner Frau die These über die Verwerflichkeit des Ehebruchs und die Notwendigkeit der stricten Jnnehaltung der ehelichen Treue unter allen Umständen zu plaidiren. Natürlich geschieht dies anscheinend unabsicht­lich, und Julien stellt sich so, als ob er von der Gefahr, die über ihm schwebst keine Ahnung habe. Während dieser Moralpredigt erwärmt sich der sonst so kühle Mann in so ungewohnter Weise, er offenbart ein so tief empfindendes, edles, großes Herz, daß er den Händen des jungen Mannes die-tödtliche Waffe, die dieser gegen die Ehre des Ehemannes gezückt hatte, entwindest daß er Gabrielen die Augen über seine Verdienste und über ihre Verirrung öffnet, und daß diese, von tiefer Reue erfaßt, ihm schluchzend um den Hals fällt und in den Worten des Schlnßverses begeistert ausruft:

0 pörs äs kunülle! o xovt! ss ÜLlmo!"

Der außerordentliche Erfolg, den dieses Stück beim Publicum errang, erhielt noch eine weihevolle Bestätigung dadurch, daß die Akademie dem Werke den Tugendpreis ertheilte. Es versteht sich, daß das Stück von Seiten der Kritik des Romantismus, der just das entgegengesetzte Thema: die siegreiche Gewalt der Leidenschaft über alle Satzungen der Gesellschaft und alle Rück­sichten gegen die Familie, in den verwegensten dramatischen Variationen zu behandeln nicht müde ward, die heftigsten Angriffe zu erfahren hatte. Eine der Kritiken, die der Dichter als eine persönliche Beleidigung ausfassen mußte, führte Emile Augier sogar auf die Mensur. Um zu zeigen, wie diese Gabriele beurtheilt wurde, will ich aus einem längeren Aufsatze von Vacquerie, dem kritischen Stabstrompeter im Victor Hugo'schen Leibregimentc, einige Zeilen mittheilen.

Wenn man den niedrigen Jnstincten der Masse schmeichelt," schreibt Vacquerie,wenn man gegen das Ideal und alle höheren Bestrebungen ankampft, wenn man. die Träumereien und die Sterne lächerlich macht und sich zu dein Beweise erniedrigt, daß die Notare und Advocaten, die auf ihren Parquetsitzen sich behaglich schmunzelnd breit machen, die wahren Dichter sind, dann ist der Erfolg unausbleiblich. Andere fassen freilich die Ausgabe des Dichters anders auf; sie meinen, der Dichter solle die Menge leiten, nicht ihr nachlausen, solle das Publicum berathen, nicht ihm dienen; aber diesen Lehrmeistern des Ideals, der Liebe und des Gedankens wird von der Menge, die sie beständig verletzen müssen, meistens übel mitgespielt. Die Gewöhnlich­keit ist entschieden sicherer; es verfehlt aus der Bühne nie seine Wirkung, wenn die hausbackene Moral vertheidigt wird, die Einigkeit im Haushalt sich breit macht, die eheliche Treue, die Bewunderung der Hemden mit Knöpfen der lyrische Duft des Kochtopses."