Heft 
(1878) 15
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gestanden hatte, legte jetzt ihren Arm in den seinen und fuhr dann, wahrend beide auf der breiten Strohmatte des Zim­mers auf und ab promenirten, in ihrem Geplauder fort.

Du glaubst nicht, Lewin, wie öde Tage wir jetzt haben. Seit einer Woche flog uns nichts wie Schneeflocken ins Hans."

Aber Du hast doch den Papa..."

Ja und nein. Ich Hab' ihn und Hab' ihn nicht; jeden­falls ist er nicht mehr wie er war. Seine kleinen Aufmerk­samkeiten bleiben aus; er hat kein Ohr mehr für mich, und wenn er es hat, so zwingt er sich und lächelt. Und an dem allen find die Zeitungen schuld, die ich freilich auch nicht missen möchte. Kaum daß Hoppenmarieken in den Flur tritt und das Postpaket aus ihrem Kattuntuch wickelt, so ist es mit seiner Ruhe hin. Er geht an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Briese werden geschrieben; die Pferde kommen kaum noch aus dem Geschirr; zu Wagen und zu Schlitten geht es hierhin und dorthin. Oft sind wir Tage lang allein. Ein Glück, daß ich Tante Schorlemmer habe, ich ängstigte mich sonst zu Tode."

Tante Schorlemmer! So findet alles seine Zeit."

O, sie braucht nicht erst ihre Zeit zu finden, sie hat immer ihre Zeit, das weiß niemand besser als Du und ich. Aber freilich, eines ist meiner guten Schorlemmer nicht ge­geben, einen öden Tag minder öde zu machen. Möchtest Du, eingeschneit, einen Winter lang mit ihr und ihren Sprüchen am Spinnrad sitzen?"

Nicht um die Welt. Aber wo bleibt der Pastor? Und wo bleibt Marie? Ist denn alles zerstoben und verflogen?"

Nein, nein, sie sind da, und sie kommen auch, und sind die alten noch; lieb und gut wie immer. Aber unsere Hohen- Bietzer-Tage sind solang, und am längsten, wenn im Kalender die kürzesten stehen. Marie kommt übrigens heute Abend; sie hat eben anfragen lassen."

Und wie geht es unserm Liebling?"

In den drei Monaten, daß Du nicht hier warst, ist sie voll heran gewachsen. Sie ist wie ein Märchen. Wenn morgen eine goldene Kutsche bei Kniehases vorgefähren käme, um sie aus dem Schulzenhause mit zwei schleppentragenden Pagen ab- znholen, ich würde mich nicht wundern. Und doch ängstigt sie mich. Aber je mehr ich mich um sie sorge, desto mehr liebe ich sie."

So weit waren die Geschwister in ihren Plaudereien ge­kommen, als Jeetze nunmehr in voller Livree in der Thüre erschien, um seinen jungen Herrschaften anzukündigen, daß es Zeit sei.

Wo ist Papa?"

Er baut aus. Krist und ich haben zutragen müssen."

Und Tante Schorlemmer?"

Ist im Flur. Die Singekinder sind eben gekommen."

Lewin und Renate nickten einander zu und traten dann heiteren Gesichts und leichten Ganges, ein jeder stolz auf den andern, in den Korridor hinaus. In demselben Augenblick, Ivo sie an dem Treppenkopf angelangt waren, klang es weih­nachtlich von Hellen Kinderstimmen zu ihnen heraus. Und doch war es kein eigentliches Weihnachtslied. Es war das alte Nun danket alle Gott," das den märkischen Kehlen am ge­läufigsten ist und am freiesten aus ihrer Seele kommt.Wie schön," sagte Lewin, und horchte bis die erste Strophe zu Ende war.

Als die Geschwister im Niedersteigen den untersten Treppen­absatz erreicht hatten, hielten sie abermals und überblickten nun das Bild zu ihren Füßen. Die gewölbte Flurhalle, groß und geräumig, trotz der Eichenschränke, die umher standen, war mit Menschen, jungen und alten, gefüllt; einige Mütterchen hockten ans der Treppe, deren unterste Stufen bis weit in den Flur hinein vorsprangen. Links, nach der Park- und Gartenthür zu, standen die Kinder, einige sonntäglich geputzt, die anderen nothdürstig gekleidet, hinter ihnen die Armen des Dorfes, auch Sieche und Krüppel; nach rechts hin aber hatte alles, was zum Hause gehörte, seine Aufstellung genommen: Der Jäger, der Inspektor, der Maier, Krist und Jeetze, dazu die Mägde, der Mehrzahl nach jung und hübsch, und alle gekleidet in die malerische Tracht dieser Gegenden, den rothen Friesrock, das

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schwarzseidene Kopftuch und den geblümten Manchester-Spenzer. In Front dieser bunten Mädchengruppe gewahrte man eine ältliche Dame über fünfzig, grau gekleidet mit weißein Tuch und kleiner Tüllhaube, die Hände gefaltet, den Kopf vorge­beugt, wie um dem Gesänge der Kinder mit mehr Andacht folgen zu können. Es war Tante Schorlemmer. Nur als die Geschwister auf dem Treppenabsatz erschienen, unterbrach sie ihre Haltung und erwiderte Lewins Gruß mit einem freund­lichen Nicken.

Nun war auch der zweite Vers gesungen und die Weih- nachtsbescheeruug an die Armen und Kinder des Dorfes, wie sie in diesem Hause seit alten Zeiten Sitte war, nahm ihren Anfang. Niemand drängte vor; jeder wußte, daß ihm das Seine werden würde. Die Kranken erhielten eine Suppe, die Krüppel ein Almosen, alle einen Festkuchen, an die Kinder aber traten die Mägde heran und schütteten ihnen Aepfel und Nüsse in die mitgebrachten Säcke und Taschen.

Das Gabenspenden war kaum zu Ende, als die große vom Flur aus in die Halle führende Flügelthüre von innen her sich öffnete und ein Heller Lichtschein in den bis dahin nur halb erleuchteten Flur drang. Damit war das Zeichen gegeben, daß nun dem Hause selber bescheert werden solle. Der alte Vitzewitz trat zwischen Thüre und Weihnachtsbaum, und Lewins ansichtig werdend, der am Arm der Schwester dem Festzug vorausschritt, rief er ihm zu:Willkommen, Lewin, in Hoheu- Vietz." Vater und Sohn begrüßten sich herzlich; dann setzten die Geschwister ihren Umgang um die Tafel fort, während draußen im Flur die Kinder wieder anstimmten:

Lob, Ehr und Preis sei Gott,

Dem Vater und dem Sohne,

Und dem, der beiden gleich Im höchsten Himmelsthrone.

Der Zug löste sich nun auf und jeder trat an seinen Platz und seine Geschenke. Alles gefiel und erfreute, die Shawls, die Westen, die seidenen Tücher. Da lagerte kein Unmuth, keine Enttäuschung ans den Stirnen; jeder wußte, daß schwere Zeiten waren, und daß der viel heimgesuchte Herr von Hohen- Vietz sich mancher Entbehrung unterziehen mußte, um die gute Sitte des Hauses auch in bösen Tagen aufrecht zu erhalten.

Zu beiden Seiten des Kamins, über dessen breiter Mar­morkonsole das überlebensgroße Bild des alten Matthias auf­ragte, waren auf kleinen Tischen die Gaben ausgebreitet, die der Vater für Lewin und Renaten gewählt hatte. Lieblings­wünsche hatten ihre Erfüllung gefunden, sonst waren sie nicht reichlich. An Lewins Platz lag eine gezogene Doppelbüchse, Suhler Arbeit, sauber, leicht, fest, eine Freude für den Kenner.

Das ist für Dich, Lewin. Wir leben in wunderbaren Tagen. Und nun komm und laß uns plaudern."

Beide traten in das nebenan gelegene Zimmer, während in der Halle die Weihnachtslichter niederbrannten.

IV. Berndt von Vitzewitz.

Der Vater Lewins war Berndt von Vitzewitz, ein hoher Fünfziger. Mit dreizehn Jahren bei den zu Landsberg gar- nisonirenden Knobelsdorfs-Dragonern eingetreten, hatte er, nach beinahe dreißigjährigem Dienst, das Kommando des berühmten Regiments eben übernommen, als ihn, im Sommer 1795, der Abschluß des Basler Friedens veranlaßte, seinen Abschied zu fordern. Voller Abscheu gegen die Pariser Schreckensmänner, sah er in demPaktiren mit den Regiciden" ebenso eine Gefahr wie eine Erniedrigung Preußens. Er zog sich verstimmt nach Hohen-Vietz zurück. Vielleicht war es ein Ausdruck seiner Ver­stimmung, daß er es, wenigstens im geselligen Verkehr, vorzog, seinen militärischen Rang ignorirt und sich lediglich als Herr von Vitzewitz angesprochen zu sehen. Das Gut selbst war ihm schon sieben Jahre früher zugefallen, unmittelbar fast nach seiner Vermählung mit Madeleine von Dumoulin, ältesten Tochter des Generallientenants von Dumoulin, der bei Zorndorf, als jüngster Offizier in der Schwadron des Rittmeisters von Wake­nitz, Wunder der Tapferkeit verrichtet und nach zweimaligem Durchbrechen der russischen Qnarrös den Umu- le mw-its auf dem Schlachtfelde empfangen hatte.