Heft 
(1878) 20
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Die jüngsten Reichstagswahlen haben mehr als je den Blick in die Zukunft gelenkt. Sie haben die Furcht vor einer unser Staats- lcben gefährdenden Verstärkung der Sozialdemokratie laut werden und bereits nach einem Heilmittel hierfür suchen lassen. Alle ängstlichen Gemüther kennen jetzt nur die eine Losung:Beseitigung des allge­meinen direkten Wahlrechts ohne Censns."

Da muß nun zunächst daran erinnert werden, daß wir in unseren Wahlen zum deutschen Reichstag die letzten Konsequenzen eines allge­meinen direkten Wahlrechts ohne Censns überhaupt noch nicht gezogen haben. Diese Konsequenzen sind aber:

1) Wahlberechtigung aller Mündigen, also nicht erst der 25jährigen, sondern schon der 21jährigen Männer.

2) Wahlberechtigung aller mündigen unverherratheten Frauen.

3) Vertretung der verheiratheten Frauen und der unmündigen Kinder durch die Familienhäupter (so daß ein Ehemann mit Frau und 6 Kindern 8 Stimmen besäße)

4) Aufhebung der Wahlkreise und Listenabstimmnng für das ganze Reich (so daß nach dem gegenwärtigen Stand jeder Wähler ein Verzeichniß der ihm genehmen 397 Abgeordneten übergeben würde).

Diese Biele» wahrscheinlich »topisch erscheinenden Schlußfolgerungen ans der Forderungallgemeiner direkter Wahlen" zum Zweck der Er­mittelung deswahren Volkswillens" sind aber nicht blos von einem bedenkenden jüngst verstorbenen Staatsrechtslehrer als logisch richtig anerkannt, ihre praktische Anwendung ist auch bereits mehrfach von der radikal-demokratischen Partei in Frankreich angestrebt worden.

Das bestehende Wahlgesetz zum deutschen Reichstag ist also keines­wegs so radikal demokratisch, als es ansgegeben wird Es ist nicht einmal so radikal als das Wahlgesetz vieler Gemeinden, welches die vierte jener Folgerungen ohne weiteres zngibt.

Warum sordert aber die Sozialdemokratie nicht schon heute wenig­stens diese Listenabstimmung ohne Wahlkreise? Weil dieser Wahlmodus den Sieg einer einzigen Partei mit Ausschluß aller übrigen herbeiführt. Es würde dann z. B. im Jahre 1874 die nationalliberale Partei, welche die größte Stimmenzahl hatte (30,s hh aller Stimmen, Centrnm 30,o htz), ausschließlich im Reichstag vertreten gewesen sein. Und die Sozialdemokratie ist darüber nicht im Zweifel, daß sie, wenn es sich um ein reines Entweder-Oder handelt, stets größere Allianzen gegen sich, als für sich haben wird.

Daher kommt es auch, daß nicht blos die ruhigen Staatsmänner, welche die häufigen durch das Sichablösen ausschließlich herrschender Parteien nothwendig bedingten Revolutionen vermeiden nnd deshalb alle Parteien, auch die Sozialdemokraten, im Reichstag dulden wollen, sondern daß auch die Sozialdemokraten selbst die äußersten Konsequenzen des allgemeinen direkten Wahlrechts schon jetzt zu ziehen sich scheuen.

Doch möchten sie und daraus kommt es uns hier an jene vierte Folgerung in der Weise zur Wahrheit machen, daß die Zahl der Abgeordneten der Parteien nach der Zahl der im ganzen deutschen Reich für die betreffende Partei abgegebenen Stimmen bemessen würde.

Dieser Modus würde nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge, und 1877 noch mehr als früher, ihnen ausschließlich zu gute kommen. Im Jahre 1874 wurden die S sozialdemokratischen Abgeordneten mit nur 80,893 oder 23,8 htz von sämmtlichen 339,738 abgegebenen sozial­demokratischen Stimmen gewählt. Mithin blieben 76,2 hh ihrer Stim­men wirkungslos, während dies bei dem Centrum nur bei 23,i, beiden Nationalliberalen bei 22,9, bei den Fortschrittlern bei 21,s und beider Protestpartei bei 2,6 htz der Fall war.

Wenn in der nachfolgenden Tabelle die Zahlen unter ^ den Pro­zentsatz bedeuten, nach welchem die Parteien an den Ergebnissen der Wahlen von 1874 betheiligt waren, die unter L dagegen den Prozent­satz der für die Parteien abgegebenen Stimmen, so ergibt sich, in welcher Weise der von den Sozialdemokraten gewünschte Modus die Zusammensetzung des Reichstags beeinflussen würde:

-4..

8.

Konservative . . .

. . 5,5 vch

7,2 o/o

Deutsche Reichspartei

. . 8,3 -

6,9 -

Liberale Reichspartei

. . 0,8 -

1,1 -

Natioualliberale . .

. . 39,1 -

80,9 -

Fortschrittler . . .

. . 12,3 -

9,2 -

Volkspartei . . .

. . 0,3 -

0,5 -

Sozialdemokraten

. . 2,3 -

6,5 -

Centrum ....

. . 25,4 -

30,o -

Parlikularisten . .

. . 1.0 -

2,4 -

Polen .....

. . 3,5 -

3,8 -

Protestpartei . . .

. . 1,5 -

1,5 -

100,0 flo

100,0 o/o

Die Konservativen, Ultramoutanen und Partikularisten würden sich verstärken, die Sozialdemokraten verdreifachen, alle ans Kosten der übrigen Parteien.

Die Wahlen von 1877, welche den Sozialdemokraten nur 3 aller Sitze einränmten, würden für dieselben unter diesen Voraus­setzungen verhältnißmäßig noch größere Vortheile gewährt haben.

Wir haben dies alles nur ansgeführt, um zu beweisen, wie ge­fährlich es gerade für die reichsfrenndlicheu Parteien sein würde, an den gegenwärtigen Grundlagen des Wahlrechts zum deutschen Reichs­

tag zu rütteln. Kommen diese einmal ins Wanken, so würde die Reaktion auf der einen die Aktion auf der anderen Seite wachrufen, und es läßt sich nicht Voraussagen, ob diejenigen Bestrebungen, welche die Konsequenzen des allgemeinen Wahlrechts beschränken, oder die­jenigen, welche sie in der angedenteten Weise bis zum äußersten ziehen wollen, wenn auch nur vorübergehend, die Oberhand gewinnen.

Auch öffentliche Rechte können zu wohlerworbenen werden. Man wird dieselben daher achten müssen. Wenn aber die bisherigen mit den Rechten korrespondirenden Pflichten nicht genügen, dann könnte man dem allgemeinen Wahlrecht auch die allgemeine Wahlpflicht entgegen­setzen.

Die beste Garantie gegen Einseitigkeiten des allgemeinen Wahl­rechts scheint uns aber und dies beweist unsere Karte in dem Fortbestehen des geographischen Einflusses aus die Wahlergebnisse zu liegen. Nur diejenigen politischen Anschauungen werden auf die Dauer bestimmend für ein Staatswesen sein, welche von allen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft getheilt werden können. In dieser Lage sind alle jetzt bestehenden politischen Parteien im deutschen Reichstag, mit alleiniger Ausnahme der sozialdemokratischen. Für Polenthnm oder Dänenthum, für nltramontane, konservative oder liberale Anschauungen können sich alle Stände der bürgerlichen Gesellschaft erwärmen. Die sozialdemokratische Irrlehre ist nur ein Evangelium für das Proletariat.

Daraus, daß das Bürgerthum in unverantwortlicher Weise hier oder dort jenem die politische Führung überläßt oder in verblendeter selbstmörderischer Weise, manchmal seinem Mißmuth durch Betheiliguug an der Wahl eines Sozialdemokraten Luft macht, darf man noch keinen Schluß auf die sozialdemokratische Versumpfung gewisser Wahlkreise ziehen. Wenn man die Sozialdemokratie von dem geordneten staak- lichen Leben zurückdrängen wollte, würde man nur ein aus der Ober­fläche erkennbares Symptom beseitigen, die Krankheit selbst aber, den Klassenhaß, nur um so tiefer in den Körper bannen.

Es handelt sich nur darum, dafür zu sorgen, daß die Wirkungen dieser Krankheit lokalisirt bleiben. Und dies thut in bester Weise die Eintheilung des Reichs in Wahlkreise. So lange diese dem Ganzen gegenüber individualen Einheiten bestehen bleiben, werden sich dieselben auch individuell äußern, und in der hierdurch erzielten Mannigfaltig­keit ist die beste Gewähr gegen den Terrorismus einseitiger Parteian­schauungen gegeben.*)

Die Wahlkreise n. d. Parteistellung ihrer Abgeordneten 1877.

ä

A

§ Dtsche. Rerchs- partei.

N.-Lrb.u. varr. Fortschrittler.

HK

Sozialdemokr.

Centrum.

AZ

ßZ

K

n

r«2

K

LZ

ZL

Z

ft

konservative.

13

2

3

2

2

22

Z

Freiconservat.

1

1

Dtsche. Reichs- Partei.

3

2

25

1

1

3

35

§

N.-Lib. u. bair. Fortschrittler. Fortschritt!, n. sndd. Demokr.

14

4

3

5

120

6

8

34

3

6

1

1

i

-

155

50

Sozialdemokr.

1

3

5

9

s'

Centrum.

2

2

91

4

10t

ff

Hannov. Parti­kularisten.

4

4

Polen.

1

1

12

14

L

Dänen.

i

1

s

Els -Lothring. Protestpartei.

»»

2

5

K

Els.-Lothring.

Autonomist.

j

Ergebniß 1877

38

7

33

135

45

13

97

4

13

i

5,

6

^97)

f

Veränderung gegen 1874

-i-16

-j-6

2

-20

5

4

0

1

0

0

-s-6

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l

*) Die oft schwankende Parteistellung einzelner Abgeordneter konnte nicht immer in der mit beschränkten technischen Mitteln her­gestellten Karte zum Ausdruck gelangen, die in aller Eile nach den ersten einlaufenden Nachrichten entworfen wurde. Daher mag in einzelnen Wahlkreisen die angewandte Farbe oder Signatur nicht immer die Parteistellung des Gewühlten decken; doch ist das Bild im Ganzen ein richtigesWilde" wurden nahestehenden Parteien, der eine christlich-soziale Abgeordnete den Ultramontanen, die Deutschkouser- vativen den Altkonservativen, die einfach als liberal bezeichneten und der bairische Fortschritt den Nationalliberalen zugerechnet. Ein säch­sischer Abgeordneter kandidirte in einem Kreis als Konservativer, in einem anderen als Fortschrittsmann seine Parteistellung durch eine Farbe richtig darzustellen, ist daher ein Ding der Unmöglichkeit.

D. Red.

Unter Verantwortlichkeit Non Silo Kkastng in Leipzig, herausgegeben von vr. UoSert Koenig in Leipzig. Verlag der Iaheinr-KLpeditton (Selhagen L Ktajing) in Leipzig. Druck von A. H. Teuvner in Leipzig.