Heft 
(1878) 26
Seite
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Mor.dregenbogen spannt sich aus; alles opernhaft. Zuletzt er­scheint Geßler zu Pferde...."

... Und der Souffleur geräth in Gefahr, wie Max Piccolomini unterm Hufschlag der Pferde zu Grunde zu gehen. Nicht wahr, Schwester?"

Ich acceptire Deine Worte und überhöre den Spott, der sich nach Deiner Art mehr gegen mich als gegen den Dichter richtet. Er kann übrigens meiner Zustimmung entbehren; der Weimaraner Herzog hat ihn nobilitirt."

Das hat er. Hast Du denn aber je den Schillerschen Dell mit Aufmerksamkeit gelesen?"

Ich Hab' es wenigstens versucht."

Da bist Du mir in unserem Streit um einen Pas vor­aus, denn ich darf mich meinerseits nicht rühmen, auch nur einen Versuch zur Lektüre Lemierres gemacht zu haben. Aber eines weiß ich, er kam und ging. Sie mögen ihm, was ich nicht weiß, einen Sitz in der Akademie gegeben, ihm Kränze geflochten, ihm in irgend einem Ehrensaal ein Bild oder eine Büste errichtet haben, es bleibt doch bestehen, was ich sagte: er kam und ging. Er hat keine Spur hinterlassen."

Und doch folgten wir vor einer Stunde erst eben diesen Spuren und waren hingerissen durch die Schönheit seiner Worte."

Seiner Worte, ja; aber nicht durch mehr. Er mag das Herz seiner Nation berührt haben, aber er hat es nicht ge­troffen. Nach solchen Balsam- und Trostesworten:Wenn der Gedrückte nirgends Recht finden kann, greift er getrosten Muthes in den Himmel und holt herunter seine ewigen Rechte," wirst Du den Tell Deines Lemierre, dessen bin ich sicher, ver­geblich durchsuchen. Ich wüßte sonst davon. DieserHerr Schiller", wie Du ihn nennst, ist eben kein Tabulaturdichter, er ist der Dichter seines Volkes, doppelt jetzt, wo dies arme niedergetretene Volk nach Erlösung ringt. Aber verzeih, Schwe­ster, Du weißt nichts von Volk und Vaterland, Du kennst.nur Hof und Gesellschaft, und Dein Herz, wenn Du Dich recht befragst, ist bei dem Feinde."

Nicht bei dem Feinde, aber bei dem, was er vor uns voraus hat."

Und das ist in Deinen Augen nicht mehr und nicht weniger als alles. Ich sehe seine Vorzüge, wie Du sie siehst, aber das ist der Unterschied zwischen Dir und mir, daß Du von keiner Ausnahme wissen willst und der im ganzen zu­gestandenen Ueberlegenheit auch in jedem Einzelfalle zu be­gegnen glaubst. Erinnere Dich, es gibt Fruchtbäume, die nur spärlich tragen; vielleicht ist Deutschland ein solcher. Und wenn denn durchaus gescholten werden soll, so schilt den Baum, aber nicht die einzelne Frucht. Diese Pflegt um so schöner zu sein, je seltener sie ist. Und eine solche seltene Frucht ist unser Tell".

Während dieses Streites hatte sich aus dem Salon und dem Billardzimmer her ein rasch wachsender Kreis von Zu­hörern um Vitzewitz gebildet, welcher, erst als er schwieg, das Peinliche der Situation empfand; nicht seiner ihn stets herausfordernden Schwester, wohl aber Mademoiselle Alceste gegenüber. Er trat deshalb auf diese zu, küßte ihr die Hand und sagte:Pardon, Madame, wenn ich durch eines meiner Worte Sie verletzt haben sollte. Ich fühle, was wir einem fremden Gaste, aber zugleich auch, was wir unserem Vaterlande schuldig sind. Sie sind Französin; ich frage Sie, was Sie an irgend einer Stelle Frankreichs bei Unterordnung Ihres Corneille unter einen fremden Poeten zweiten Ranges empfunden haben würden! Ich täusche mich nicht in Ihnen, Sie hätten ge­sprochen nach Ihrem Herzen, nicht nach der Forderung gesell­schaftlicher Convention. Madame, ich rechne auf Ihre Ver­zeihung."

Mademoiselle Alceste erhob sich mit einer Würde, als ob ihr mindestens eine Corneillescene zu spielen auferlegt worden sei und sagte: ,Mou.8isur Io darou, vous avs 2 i-aisou, st jo suis lisursuss cts lairs 1a, scmuaissauos ä'uu vrai Asutilllorams. ä'aiius dsamsoup 1a, Graues, umis fiaims plus Iss lioiuinss äs sosur partout oll ss Iss trouvs." (Herr Baron, Sie haben recht, und ich freue mich, die Bekanntschaft eines echten Edel­manns zu machen. Ich liebe Frankreich sehr, aber ich liebe

noch mehr brave Männer, wo ich sie auch finde.) Dann, sich respektvoll vor der Gräfin verneigend, fuhr sie gegen diese gewandt fort: , Mills paräous, Nuckaius la. Loiutssss, ruais, saus äouts, vous vous rappsls^ la uiaxiius tavorits äs uotrs sbsr priuss:

1a vsritö o'sst la lusillsurs politigus." (Bitte tausend Mal um Verzeihung, Frau Gräfin, aber Sie erinnern sich ohne Zweifel der Lieblingsmaxime unseres theuren Prinzen: Wahr­heit ist die beste Politik.)

Die Gräfin reichte der alten Französin die Hand und lächelte gezwungen. Den Blick des Bruders vermied sie. Sie konnte Scenen wie diese vergessen, aber nicht sogleich. Der Augenblick behauptete sein Recht über sie.

Es war elf Uhr vorüber. Das Gespräch, das schon zu lange literarisch geführt worden war, wandte sich jetzt den alleräußerlichsten Erörterungen zu und drehte sich um die Frage: wann der Wagen oder Schlitten Vorfahren, wer aufbrechen oder bleiben solle? Gegen Tubals und Kathinkas Abreise wurde seitens der Gräfin ein entschiedenes Veto eingelegt, dem sich die Geschwister unschwer fügten. Sie willigten ein zu bleiben, mit ihnen Dr. Faulstich und Mademoiselle Alceste. Kathinka ver­ließ gleich darauf das Zimmer, angeblich um ihren Koffer- und Etuischlüssel an die Zofe der Gräfin, Eva, eine Schwester Malinens, zu geben, in Wahrheit um mit dieser zu plaudern. Denn sie war auch darin ganz Dame von Welt, daß ihr Kam­mermädchengeschwätz sehr viel und Professorenuntersuchung sehr wenig bedeutete.

In immer flüchtiger werdenden Fragen und Antworten setzte sich die Konversation fort, in die selbst einige Bammesche Drastika kein rechtes Leben mehr bringen konnten. Endlich schlug es zwölf; Berndt öffnete eines der Flügelfenster, um das alte Jahr hinaus, das neue herein zu lassen und rief, während die frische Luft einströmte, dem Fenster zugewandt:

Ich grüße dich, neues Jahr; oft habe ich dich kommen sehen, aber nie wie zu dieser Stunde. Es überrieselt mich süß und schmerzlich, und ich weiß nicht, ob es Hoffen ist oder Bangen.

Wir haben nicht Wünsche, wir haben nur einen Wunsch: seien wir frei, wenn du wieder scheidest!"

Die Gläser klangen zusammen, auch das Mademoiselle Al- cestes. Sie theilte ihre patriotischen Empfindungen zwischen Ancien Regime und Republik; gegen den Kaiser, der ihr ein Fremder, ein Korse war, unterhielt sie einen ehrlichen Haß.

So war denn nichts in ihrem Herzen, das dem unglücklichen ! Lande, in dem sie so viele glückliche Jahre gelebt hatte, die ! Rückkehr zu Freiheit und Machtstellung hätte mißgönnen können. !

Die Aufregung, die der kurze Toast geweckt hatte, dauerte ! noch fort, als Kathinka wieder in den Saal trat.

Wir haben Blei gegossen," sagte sie lachend und legte ! einen blanken Klumpen, auf dem eine Moosguirlande sichtbar war, vor die Tante nieder.Eva meint, daß es ein Braut­kranz sei."

Alle waren einig, daß Eva richtig gesehen und sehr wahr scheinlich noch richtiger prophezeit habe. So ging das ge­gossene Blei von Hand zu Hand. Es kam zuletzt auch an ! Lewin, auf den es bei seiner Befangenheit in abergläubischen Anschauungen einen Eindruck machte, daß der Kranz nicht ge- ! schlossen war. i

Die Diener traten ein, um zu melden, daß die Wagen ! und Schlitten warteten. Berndt empfahl sich zuerst; dann ! folgten die anderen Gäste, meist paarweise oder mehr. Mit Drosselstein war der Lebusische Landrath; sie hatten denselben Weg.

Nur Lewin fuhr allein. Aus den ersten Dörfern scholl ihm noch Musik entgegen; dazwischen Schüsse, die das neue Jahr begrüßten. Dann wurde es still und nur das Bellen eines Hundes klang von Zeit zu Zeit aus der Ferne her. Sein Schlitten, schaufelte, wo die Fahrstraße schlecht war, nach rechts und links hin den Schnee zusammen; er selber aber hing träumerisch den Bildern dieses Tages nach.

Auf dem Polstersitze saß wieder Kathinka;nun ist es Zeit, Lewin, an unsere Lektion zu denken," und er beugte sich vor, daß ihre Wangen einander berührten und begann ihr die Verse vorzusprechen. Dann sah er sie auf der Bühne stehen, ruhig, ihres Erfolges sicher, und es war ihm, als vernähme er