Heft 
(1878) 40
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KHcrrnkLerOitöei: vom Kongreß.

I. Ihrer Großbritannischen Majestät erster Lord des Schatzes.

Wer in den letzten Wochen um die zweite Stunde die Wilhelmsstraße in Berlin passierte, der konnte, wenn ihm das Glück wohl wollte, einem alten Herrn begegnen, an dem niemand vorüberging, ohne sich unwillkürlich nach ihm umzusehen. Dieser Herr, der sich meist auf den Arm eines jungen Mannes stützte, war sehr elegant, ja für sein Alter vielleicht allzu elegant gekleidet. Das ohnehin lange und durch einen Kinnbart noch verlängerte Gesicht trägt einen müden Ausdruck, die Augenlider sind niedergeschlagen, und auch der Gang ist matt und schleppend. Der ganze Mann, dessen Haupthaar lang herabwallt, zeigt entschieden den semitischen Typus, der sich auch darin nicht verleugnet, daß weder das hohe Alter noch die Spuren, welche ein wechsel­volles Leben den Gesichtszügen eingrub, dem Antlitz den Ausdruck zäher Ausdauer rauben konnten, der eben sür den Semiten so charakteristisch ist. Dieses markige, kluge Gesicht kennt jeder Europäer, kennt jeder Mensch, zu dem überhaupt je eine illustrirte Zeitung drang; dieser gebrechliche alte Mann ist der mächtigsten einer, die je gelebt haben, denn hinter ihm schreitet das seebeherrschende England.

Wenn er die Marmortreppe im Reichskanzleramt hinangestiegen ist und unter den Lenkern der Staaten Europas Platz genommen hat, ist nur einer im Saal, der ihm an Macht gleichkommt der Wirth des Hauses.

Welcher Fülle von Genie, Arbeit und Ausdauer bedurfte es, bis Ben­jamin Disraeli, Lord Beaconsfield, als der allmächtige Vertreter Großbritanniens seine Wanderungen zu dem Kongreß der europäischen Staats­männer antreten konnte.

Benjamin Disraeli wurde am 21. December 1804 in London als der Sohn eines nicht unangesehenen jüdischen Schriftstellers Isaak Disraeli, dessen Vater aus Venedig nach England gekommen war, geboren. Als Isaak Disraeli sich durch die Taufe in die Christenheit aufnehmen ließ, war Ben­jamin bereits 12 Jahre alt, die ganze Knabenzeit des hochbegabten frühreifen Kindes fällt also noch in die Zeit, da der Vater dem jüdischen Glauben an­hing. Man weiß, wie fest jene Vereinigung von Volksthum und Volksglauben, die wir Judenthum nennen, alle diejenigen umklammert, die aus ihr hervor­gingen. Heinrich Heine, der in unserer Sprache so köstliche Lieder gedichtet hat, war, wo und wann er überhaupt etwas war, im Grunde seines Herzens doch weder Deutscher noch Christ, sondern einzig und allein Israelit und Jehovaanbeter, und von einer Menge von Männern, die unter uns als Aerzte, Juristen, Gelehrte wirken, in unseren Städten ihrem Gewerbe nachgehen oder uns wohl gar im Parlament vertreten, gilt ganz dasselbe. Auch Disraeli ist sein Leben lang ein begeisterter Prophet des Judenthums gewesen, eine Function, in der er sich zu den abenteuerlichsten Ausführungen versteigt. Er behauptet nicht nur, daß die Juden die weitaus gescheidtesten und besten Menschen der Erde, und in Folge ihrer Abstammung von Abraham gleichsam der natür­liche Adel der Welt seien; er ist nicht nur der Ansicht, daß die Völker Europas gut thun würden, ihre Regierungen kurzer Hand in die Hände der Juden zu legen, nein, er spricht auch bedeutende Männer einfach dem Judenthum zu, selbst wenn dieselben schlechterdings nichts mit demselben zu thun halten. Was würde wol der weiland Graf Kancrin (der ehemalige russische Finanz­minister) sagen, wenn er erfahren könnte, daß Disraeli ihn für einen ulhauischen Juden erklärt, und was Graf Arnim, wenn er gehört hätte, er rn ,-ü> preußischer Jude. Das Judenthum ist Disraelis Lieblingsthema und >.r ; hrl in seinen Romanen immer wieder zu ihm zurück.

Ucber Disraelis Bildungsgang ist wenig bekannt, man weiß nur, daß er nie eine Universität besucht hat. Trotzdem erwarb er sich auf dem Wege des Selbststudiums eine umfassende Bildung. Er trat dann als Journalist ins Leben und schrieb sür verschiedene Zeitungen, ohne daß seine Artikel be­sonderes Aufsehen erregt hätten.

Um so größer war der Erfolg seines ersten Romans. Er hießVivian Grey", erschien anonym (1826) und erregte ungeheueres Aufsehen, ja man glaubte eine Weile, daß er ein Werk Lord Byrons sei. Die Widmung lautete:Dem besten und größten Mann."Wen es angeht", heißt es ferner, der wird dieses Kompliment annehmen und zu würdigen wissen; diejenigen, an welche eS nicht gerichtet ist, werden dasselbe thun." Disraeli selbst äußerte sich (1870) wie folgt über diesen in der großen Welt spielenden Roman: Vivian Grey" war ein knabenhaftes Werk und konnte daher nur auf Phantasie und nicht auf Erfahrung beruhen. Dennoch hat dieses Buch meine Absicht, es zu unterdrücken, immer wieder zu Wasser werden lassen, ja ist es nicht merkwürdig ich muß noch heute die Leser für sein fortwähren­des aber unvermeidliches Wiedererscheinen um Entschuldigung bitten."

Es folgten nun mehrjährige Reisen durch Deutschland, Italien, Griechen­land, die Türkei, Syrien, Palästina, Aegyten u. s. w. Die Früchte dieser Wanderungen wurden theils als selbständige Bücher zu Markt gebracht, theils als Episoden in Romanen verarbeitet. Von letzteren gefiel zumal Der junge Herzog", in welchem Disraeli die vornehme Gesellschaft, die er damals noch nicht kannte, so richtig schilderte, als ob er sich lange in ihr bewegt hätte.Mein Sohn hat meines Wissens nie mit einem justgen Herzog auch nur gesprochen", soll Disraelis Vater damals gesagt haben.

Als die Wanderjahre 1831 ihren Abschluß fanden, beschloß Disraeli die politische Laufbahn einzuschlagen. Er hatte anfangs Unglück und siel ver­schiedene Male bei der Wahl ins Parlament durch. Da er sein Glück ab­wechselnd bei beiden Parteien versuchte, so wurde 1834 in einem politischen Club die Frage aufgeworfen:Was ist Disraeli? Disraeli selbst be­antwortete sie in einer Broschüre:Was ist er?" in der er sich über seine damaligen politischen Ansichten aussprach. Im folgenden Jahr gab er dann jeneVertheidigung der englischen Verfassung" heraus, kam aber

auch damals nicht ins Parlament. Erst 1837 erreichte er dieses Ziel seines Ehrgeizes. Seine Jungferrede mißfiel indessen und erregte durch einen heftigen Angriff auf O'Connell den Unwillen des Hauses. Als Disraeli sah, daß er bei dem Lärm nicht durchdringen würde, soll er ausgerufen haben:Nun dann, jetzt setze ich mich nieder, aber die Zeit wird kommen, da Ihr mich anhören werdet. Ich habe Manches mehrmals vergeblich versucht, bis es mir schließlich doch glückte." Und er behielt Recht. Bald war er einer der geschätztesten resp. gefürchtetsten Parlamentsredner. Daneben errangen auch seine Romane die größten Erfolge. Diejenigen, welche sie jetzt lesen und mit den maßgebenden Persönlichkeiten des damaligen England nicht sehr genau bekannt sind, können das freilich kaum verstehen. Das berühmte Coningsby" (1841) z. B. enthält außer einer Anzahl ganz phantastischer Charaktere wie z. B. Sidonia, endlose politische Leitartikel, die mit der Hand­lung schlechterdings nichts zu thun haben. Der Reiz dieser Dichtungen liegt aber ohne Zweifel darin, daß sie ihrerzeit mitten aus dem vollsten Leben und aus der Wirklichkeit geschöpft waren. Seine Feinde behaupten freilich, daß insofern auch persönliche Interessen wachgerufen worden wären, als die ein­zelnen Charakterbilder als Porträs bezeichnet werden müßten.

Disraeli schildert fast ausschließlich die vornehme Welt und er wirth- schaftet aus dem Vollen heraus. Der Held ist mindestens ein Lord, meist aber ein Herzog und er verfügt regelmäßig über Summen, üm die ihn die Bank von England beneiden könnte. In Disraelis Augen fängt der Mensch recht eigentlich erst beim Baron an, und, ,die Leute, welche eine sitzende Lebens­weise führen," werden in Wort und Bild gräulich behandelt. Da übrigens sein Rohmaterial die englische Aristokratie kernig ist, so kommt man immerhin meist zu sympathischen Figuren.

Disraeli hatte sich im Jahre 1839 mit der Wittwe seines Freundes Windham Lewis verheirathet. Die Dame war siebenzehn Jahre älter als er, aber die Ehe, die erst in den siebenziger Jahren durch den Tod der Frau ge­löst wurde, war außerordentlich glücklich. Disraeli hat mehr als einmal den trefflichen Einfluß, den die Dame auf ihn ausübte, öffentlich betont und sie als einvollendetes, vollkommenes Wesen" geschildert.

Im Parlament hatte Disraeli sich unterdessen anfangs an Peel ange­schlossen, sich während den Kornbill-Debatten aber von ihm getrennt und ihn schließlich sogar heftig angegriffen. Es war ihm darüber gelungen sich den Feinden so gefürchtet und den Freunden so unentbehrlich zu machen, daß die Torys ihn nach dem Tode Lord Bentincks (1848) als Führer der Partei an­erkannten, ein Schritt, welcher den stolzen Aristokraten nicht ganz leicht ge­worden sein mag.

Die fernere politische Laufbahn Disraelis können wir hier natürlich nur andeuten. Sie bewegte sich trotz mancher Rückschläge doch meist in aufsteigender Linie. Dreimal war er Finanzminister in Toryministerien, 1868 gelangte er zum ersten Mal zur Premierschaft. Als er dann in Folge der Gladstöneschen Resolution über die Emancipation der irischen Kirche Gladstone weichen mußte, kehrte Disraeli nach langer Zeit wieder einmal zu seiner ersten Liebe zurück, d. h. er benutzte seine Muße dazu, einen Roman Loth air" zu vollenden, der 1870 erschien und ungeheures Aufsehen erregre. Der Roman zeigt alle Vorzüge und nur wenige Schwächen der Disraelischen Dichtungen. Mit kühnem Muth ist wieder ein Thema herausgegriffen, das alle Gemüther beschäftigte. Es werden nämlich die Versuche der Jesuiten ge­schildert, England wieder unter das päpstliche Joch zu beugen und zwar an dem Beispiel eines unermeßlich reichen englischen Herzogs, dessen Person und Millionen für Roms Zwecke gewonnen werden sollen. Im Gegensatz zu den Jesuiten erscheinen dann die Revolutionäre, die irischen Fenier und die ita­lienischen Republikaner auf der Bühne. Neben diesen weltbeherrschenden Ideen und ihren Vertretern gehen höchst stimmungsvolle Schilderungen des Lebens auf den Landsitzen der englischen Großen und anmuthig ersonnene Feste und Vergnügungen her.

Lothair zeigt den früheren Romanen gegenüber einen großen Fortschritt. Die leidigen politischen Leitartikel sind verschwunden, und die Ideen finden ihren Ausdruck in den Handlungen, Worten und Erlebnissen der vorgeführten Personen. Nicht Disraeli selbst preist die Vorzüge der anglikanischen Kirche, sondern sein Buch thut es.

Im Februar 1874 mußte Gladstone seinem Nebenbuhler wieder Platz machen. Seitdem hat Disraeli ununterbrochen an der Spitze des Regiments gestanden.

Man weiß, wie populär Disraeli in Folge seiner Haltung in der orien­talischen Frage zur Zeit in England ist und wie alle an der Russenfurcht Leidenden ihm aller Orten zujauchzen.

Man wird uns erlauben, in diesen Jubel nicht einzustimmen. Die Frucht seiner Politik ist keine andere, als daß die orientalische Frage nun doch nicht gelöst, sondern nur verschoben wird. Bulgarien wird und kann nicht lange zweigetheilt bleiben. Seine Bewohner werden den Gesetzen der Natur und den Anforderungen der Vernunft folgen, sie werden, sobald sie sich hinreichend erstarkt glauben, zu den Waffen greifen, um ihre Vereinigung zu erkämpfen. Dann wird das gefährliche Spiel da wieder anfangen, wo es jetzt aufhörte.

Lord Beaconsfield spricht sich gelegentlich über den Wiener Congreß, der lauter unhaltbare Zustande schuf, mit großer Verachtung aus. Es ist seltsam, daß gerade er es ist, der bewirkt, daß der Berliner Congreß in dieser Beziehung genau in die Fußtapfen seines Wiener Vorgängers tritt. Die Lorbeeren, die Lord Beaconsfield zur Zeit in Berlin pflückt/werden nicht lange Vorhalten, und wenn er so alt werden sollte wie sein Großvater und Vater 90 resp. 80 Jahre nämlich, so könnte er selbst sie noch hinwelken sehen.