Umschau in fernen Landen.
Die Königin von England hat ihren Schwiegersohn, den Marquis von Lorne, zum Gouverneur von Canada ernannt. Es ist dies eine weise Maßregel, indem hierdurch jene Kolonie, die größte die England besitzt, fester mit der Dynastie und dem Mutterlands verknüpft wird. Republikanische Gelüste, genährt durch die Nachbarschaft der Vereinigten Staaten, werden dadurch in den Hintergrund geschoben. Die britischen Besitzungen in Nordamerikaumfassen etwa 170,000 deutsche Quadratmeilen, also beinahe soviel wie unser ganzer Erdtheil Europa (182,000 Q-M.) ausmacht. Während aber Europa gegen 300 Millionen Einwohner zählt, hat Britisch Nordamerika wenig über 4 Millionen. Der Norden, gegen das Eismeer zu, wo Eskimo- und Jn- dianerhorden umherstreisen, wird sich wohl schwerlich je zur Kultivirung eignen; aber es bleiben noch ungeheure Strecken des schönsten fruchtbarsten Landes übrig, welches der Besiedlung durch Menschen harrt. Welcher Tummelplatz für die Hunderttausende, ja Millionen, die das alte Europa übrig hat, die hier in unzufriedener socialer Lage sind! Vor allem aber muß hervorgehoben werden, daß dieses Britische Nordamerika eine Verbindung von Wasserstraßen besitzt, wie sie nicht noch einmal in der Welt vorhanden ist. Man kann mit dem Schiffe das ganze Land kreuz und quer durchfahren, aus einem Stromgebiete in das andere gelangen, wie dieses kürzlich der bisherige Gouverneur, Lord Dufferin, in einer Rede, die er zu Manitoba hielt, hervorhob. Manitoba, das im Norden des amerikanischen Staates Minnesota liegt, wird als der Schlußstein der zahlreichen britischen Provinzen angesehen, dis sich vom Atlantischen bis an den Stillen Ocean erstrecken. Hier hatten die Canadier, als sie aus ihren dichten Wäldern hervortraten, den ersten Blick aus die weitausgedehnten Prärien des Nordwestens; hier erkannten sie, daß ihre alten östlichen Landschaften, mit den schönen Weiden und Kornfeldern und Forsten, wenngleich größer als viele europäische Königreiche zusammengenommen, doch nur die Vorhalle unermeßlich weiter, der Kultur harrender Länder seien. Uns erscheint der Rhein, dem Engländer die Themse als ein großer Strom — was sind aber diese Flüsse im Vergleich zu jenen des Britischen Nordamerika. Da ist z. B. der Ottawa, nur ein Nebenfluß des Lorenzstromes und doch länger als der Rhein, dessen Lauflänge 150 deutsche Meilen beträgt. Der überall schiffbare St. Lorenzstrom, der Abschluß der großen Seen, ist aber vom Ontario-See an bis an die Mündung in den Altantischen Ocean 450 deutsche Meilen lang. Ist man im stolzen Dampfer den St. Lorenz hinaufgefahren und durch den Ontario-See hindurch, so bietet sich, einzig unterbrochen durch den Niagarafall, wieder eine ungeheure Wasserverbindung dar: durch den Eriesee und Michigansee bis zum nordwestlichen Ende des oberen Sees, wo an der Donnerbai Fort William liegt. Es ist dies eine Strecke von abermals vierhundert deutschen Meilen. Durch eine Reihe von Flüssen und Seen (Kaministiquia, Shebandowan, Regensee, Wäldersee), zusammen wieder ein paar hundert Meilen, die durch Prärien und herrliche Wälder führen, gelangen wir an den ungeheuren Winnipegsee, der etwa 450 Q.-M. groß ist — was das bedeuten will erkennt man daraus, daß unser Bodensee noch nicht 0 Q.-M. Fläche besitzt. Hier nun liegt auch die neue Provinz Manitoba, der „Nabel" des zukünftigen großen Britisch- Nordamerika, hier beginnen die eigentlichen Prärien und Büffellandschaften. So ungeheure Strecken wir auch zu Wasser schon zurückgelegt haben, wir stehen doch erst am Anfänge des eigentlichen großen Flußlabyrinthes. In das Nordende des Winnipegsees fällt der über 400 deutsche Meilen lange Saskatschewan; der Ausfluß des Sees ist dann der halb so lange Nelson, der in die Hudsonsbai mündet. Nördlich aber, wenn auch nicht direkt mit dem Saskatschewan verbunden, doch nur durch einen engen Isthmus getrennt, liegt das System des Athabaska, Sklavenslusscs und Mackenzie mit dazwischen geschobenen Seen, die an Größe noch den Winnipegsee übertreffen. Freilich liegen ihre Mündungen im eisigen Norden, wo Schifffahrt und geregelter Verkehr aufhören, aber in ihrem südlichen Theile durchfurchen jene Riesenströme noch prachtvolles, kulturfähiges Land, daß dereinst erblühen kann. Ja, Raun: hat die Erde für alle Menschen. Noth und sociales Elend sind nur da, wo sie zu dicht gehäuft aufeinander hocken, wo der Mensch dem Menschen die Erde verleidet. Fort mit den Überschüssen in jungfräuliche Länder, die der Kultivirung harren!
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Es ist vor kurzem der Census der Hauptstadt des indischen Kaiserreiches veröffentlicht worden, welcher uns einen sehr interessanten Einblick in die Verhältnisse der großen Stadt Calcutta gewährt. Wir erfahren da, daß diese Stadt 429,535 Bewohner hat, daß aber in dieser Nummer die slottirende Bevölkerung nicht inbegriffen ist. Dieselbe ist ebenso groß wie die seßhafte, so daß man sagen kann, Calcutta hat eine Million Einwohner. Unter den Seßhaften finden wir 278,000 Hindus, 123,000 Mohammedaner und nur 34,000 Christen. Die Hindus machen also etwa zwei Drittel, die Christen nur 6 Procent der Bevölkerung aus. Unter den Christen sind 2636 Eingeborene, eine Zahl, die gegenüber dem Census von 1872 eine Zunahme von etwa 200 Seelen zeigt, ja 1865 gab es nur 1441 eingeborene Christen, so daß man diese also im entschiedenen stntigen Wachsthum sieht. Die Zahl der Juden erreicht noch nicht 1000; außer diesen werden noch Buddhisten, Mughs, Anhänger der Dschainareligion und des Brahma Somadsch angeführt. Diese Protestantenvereinler der Hindus zählen trotz sechzigjähriger Thätigkeit nicht mehr als 479 Mitglieder, was eine ausfallende Aehnlichkeit mit ihrer deutschen Parallele zeigt. Es geht den Brahma Somadsch wie den übrigen modernen Reformparteien, auch den Altkatholiken, sie gewinnen keinen Boden im Volke. Rein theistische Aussprüche aus den heiligen Schriften der indischen, persischen und christlichen Religion wurden in ein Buch zusammengestellt, das bei den gottesdienstlichen Versammlungen der neuen Kirche zu Grunde gelegt wird. Die Leiter der Partei behaupten, daß sie nur die reine unverfälschte indische Religion der älteren Veden wiederhergestellt hätten. Obwohl die Bewegung schon über ein halbes Jahrhundert dauert, hat sie doch auf das indische Volk keinen nennenswerthen Einfluß ansgeübt; nicht einmal die Majorität der in den englichen Schulen erzogenen Hindus gehört der Partei an und die Zahl ihrer Anhänger scheint eher im Abnehmen als im Wachsen zu sein. So geht es allen, die in religiöser Beziehung nicht Fisch noch Fleisch sind. Das ist ein unumstößliches Gesetz.
Neben den schon aufgeführten Bekenntnissen sehen wir im Census noch in kleiner Anzahl folgende Sekten vertreten: Unitarier, Deisten, Theisten, Atheisten, Sä- kularisten, Positivisten, Freidenker, Latitudinarier und Ungläubige! Danach ist also Calcutta nicht nur ein Emporium vieler Nationalitäten, sondern auch einer großen Anzahl von Religionen und Sekten. Was die öffentlichen Kultusstätten betrifft, so haben die Hindus 199 Tempel, die Mohammedaner 117 Moscheen, die Christen 31 Kirchen und Kapellen, die Juden zwei Synagogen, die Chinesen einige Buddhatempel und die Parsis ein Haus mit dem heiligen Feuer. Auch über den moralischen Zustand von Calcuttas Bevölkerung erfahren wir einiges Nähere.
Die Trunksucht, heißt es in einem Berichte über den Census, verbreitet sich unter den Bengalesen mehr und mehr. Früher huldigten nur die niederen Klassen der Hindus diesem Laster; doch jetzt glauben auch die höheren, daß es zur abendländischen Civilisation gehöre sich zu betrinken. Im verflossenen Jahre veröffentlichte eine einheimische indische Zeitung „Sulav Samachar" die Namen von über hundert angesehenen Eingebornen, die sich durch europäische Spirituosen ruinirt hatten. Es waren darunter Leute mit hohen Titel und alle hatten vorher eine ehrenvolle Stellung inne gehabt. „Wenn das die Früchte englischer Civilisation sind, rief ein einheimisches Blatt aus, dann brechen wir je eher je lieber mit derselben." 362 Spirituosen- und 163 Opiumhändler in Calcutta sind genug, um selbst eine so große Stadt zu vergiften.
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Ein deutscher Missionar, der mehr als dreißig Jahre schon in Indien gewirkt hat, C. B. Leupolt, veröffentlicht jetzt in englischer Sprache Erinnerungen aus seinem reich bewegten Leben. Er schildert darin auch die großen Veränderungen, welche in Indien in der letzten Zeit vorgegangen sind, darunter auch die Eisenbahnen, die in Indien fast mehr noch als in Europa eine große Umwälzung der Lebensverhältnisse herbeiführten, weil sie verändernd auf das Kastenwesen einwirken. Als die ersten Bahnen vor 25 Jahren eröffnet wurden, begann man hier und da die Lokomotiven anzubeten und einzelne Leute sind sogar bei der Verehrung dieser Maschine ums Leben gekommen. Man glaubte allgemein, es stecke ein Götze in dem eisernen Ungethüm, welches ein Hindu, nachdem er es zum ersten Male gesehen, folgendermaßen unserm Gewährsmann schilderte: „Ich wollte nach Calcutta und hatte schon viel von der Eisenbahn gehört, welche die Engländer gebaut hatten. Ich ging also nach Ranigandsch, schaute überall nach der Bahn, sah aber nichts. Auf mein Befragen wieß man mich nach einem langen Gebäude, bei dem zwei dünne Eisenlinien auf der Erde hinliefen; darauf stand ein langer Zug von Wagen, die durch eiserne Ketten verbunden waren. Wie die Sahib Log (Europäer) Pferde oder Ochsen abrichten kannten, auf diesen dünnen Linien zu laufen, begriff ich nicht; denn kaum ein Pony dürste darauf laufen können. Wir mußten Fahrkarten nehmen, die für die Entfernung bis Calcutta ziemlich billig waren. Als ich nun gerade dabei war zu berechnen, wie viel paar Ochsen wohl nöthig seien um eine so lange Wagenreihe zu ziehen, wurde ich durch ein schnaubenoes und tobendes Nnge- thüm aufgeschreckt, welches auf den Eisenlinien dahersauste und bei den Wagen still hielt, indem es diesen gleichzeitig einen Stoß versetzte, der sich allen Wagen mittheilte. Nun, dieses schreckliche Geschöpf wurde vorgespannt und benahm sich dabei besser als ein Pferd, denn es hielt still. Es hieß dann „einsteigen" und eine Glocke ertönte. „Was rief ich, da einsteigen, wo das Ungethüm vorgespannt ist?" Allein man ließ mir nicht viel Zeit zur Ueberlegung und schob mich mit ein paar Püffen in den Wagen. Ich zitterte vom Kopf bis an die Sohlen und hielt mich für verloren. Allein was war zu machen, der Wagen war geschlossen; die Glocke ertönte zum zweiten Male, ein Laut ertönte, wie das Gebrüll von Elephanten und fort ging eS mit Windeseile bis zur nächsten Station, wo das Ungethüm vor unserm Zuge durstig wurde; der Kutscher spannte es ab und führte es zu einem hohen Thurms, wo es viele Maunds Wasser trank, dann brachte es uns im Nu nach Calcutta."
Der Mann, der dieses alles im guten Glauben erzählte, blickte stolz auf die Zuhörer herab und diese verehrten ihn wegen seiner großen Erfahrungen. Jetzt wird die Eisenbahn von den Eingeborenen fleißig benutzt und sie ist sehr billig, hat vier Klassen und besondere Coupos für Frauen. Nicht genug zu schätzen ist, daß die Eingeborenen, welche den Werth der Zeit nicht kennen, durch die Eisenbahnen Pünktlichkeit lernen; denn der Zug geht ab, ohne sich um den vornehmen Herrn zu kümmern, der eine halbe Stunde zu spät kommt. In Bezug auf die Kasten, die sich in Indien so scharf trennen, wirkt die Eisenbahn ausgleichend. Es wird kein Unterschied auf ihr gemacht und Leute von verschiedenen Kasten, dis sonst durchaus nicht miteinander in Berührung kommen, müssen dieselben Wagen benutzen. „Die Wissenschaft und was sie erzeugt, selbst die Eisenbahn, Alles wendet sich gegen unsere Religion," bemerkte ein intelligenter Hindu gegen Leupolt. „Wie so die Eisenbahn?" fragte dieser. „Die Eisenbahn," lautete die Antwort, „stört unsere Gebräuche und unsere Kasten und diese allein halten uns zusammen, da wir einen religiösen Glauben nicht mehr haben und jeder glauben kann, was er mag. Unternahmen wir früher eine Reise oder Pilgerfahrt, so gingen wir zum Sterndeuter, um von ihm die beste Stunde zur Abreise uns weißsagen zu lassen. Jetzt sehen wir nach dem Fahrplan und wir wissen, daß es Zeit zum Einsteigen ist, wenn die Signalglocke ertönt; die Pfeife der Lokomotive diktirt uns die Abfahrtszeit. Sitzen wir im Zuge, dann werden wir hungrig und durstig. Draußen werden uns Speisen und Wasser angeboten. Wir fragen nicht danach, welcher Kaste der Mann angehört, der uns den Trunk bietet und zahlen unseren Pfennig. Das ist nach allen unseren bisherigen Vorstellungen ein schweres Verbrechen. Aber unsere Brahminen haben sich in die Sache gefunden; sie wollen uns nun — da sie doch die Eisenbahnen und das Reisen auf ihnen nicht aus der Welt schaffen können — weiß machen, das sei in diesem Falle erlaubt. Ich möchte aber wissen, wo das in unseren heiligen Büchern geschrieben steht."
'So rüttelt die Eisenbahn an den Kasten der Hindus/wirkt zersetzend auf dieselben ein und bereitet eine neue Zeit auch für Indien vor