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Hteßer Land und Weer.
Augenblick zu Tage getreten; sie war gerade dazu gekommen, wie ihre Gouvernante im Garten einen lebendigen Schmetterling an einer Nadel aufspießte; an allen Gliedern zitternd warf sich das Kind von hinten auf die Erzieherin, umklammerte deren Hals mit beiden Händen, in der höchsten Erregung die Worte hervorstoßend: „Auch Sie sollen sterben!"
Monsieur Merkle erfuhr diese Geschichte, aber er verlor kein Wort darüber. Mademoiselle Simon blieb die Erzieherin des mutterlosen Kindes, obgleich Jeanne sich bei jeder Gelegenheit bei ihm beklagte: „Sie ist nie freundlich, sie ist immer nur streng zu mir." — „Strenge ist gesund," antwortete ihr der Vater, und in der That, Jeanne war schon mit zehn Jahren eine kleine Dame, die Widerspruch und Tadel schweigend hinzunehmen und mit jedermann zu verkehren verstand.
Durch Mademoiselles Vermittlung war die kleine Jeanne, ohne daß sie ihr Vaterstädtchen verlassen hätte, die Schülerin eines Pariser Klosters gewesen. Jeden Samstag wurden die Aufgaben des Kindes in jenes Pariser Institut geschickt, wo sie durchgesehen wurden und mit den Ausgaben der kommenden Woche Zurückkamen. Die kleine Jeanne hatte ihren Platz in der Klasse, erhielt jedes Jahr eine Belobung und war stolz, einer Pariser Schule als Mitschülerin anzugehören. Mit zwölf Jahren kam sie als Zögling in jenes Kloster, das sie erst als achtzehnjähriges Mädchen wieder verlassen hatte.
Mademoiselle Simon, die während Jeannes Abwesenheit dem Vater Gesellschaft geleistet hatte, verließ das Haus, als das junge Mädchen in die Heimat zurückkehrte.
In ihrer Erinnerung war es einzig Mademoiselle Simon gewesen, die ihr das Leben in ihrem väterlichen Hause verbittert hatte, und einstmals, bei einem Besuch des Vaters im Kloster, gestand ihm Jeanne, daß sie ihre Erzieherin niemals geliebt habe und auch nie zu lieben vermöge, trotz der vielen Andachten, die sie in diesem Sinne schon gehalten.
Und Monsieur Merkle besann sich einen Augenblick und versprach dann seinem Töchterchen:
„Du wirst sie nicht mehr zu Hause vorfinden."
Aber das Glück, von dem sie geträumt hatte, war darum doch nicht da; die große Summe, die ihr der Vater für ihre persönlichen Bedürfnisse aussetzte, war nur eine Quelle des Kummers und Aergers für sie, weil sie halbe Tage damit zubringen mußte, ihre leidige Rechnung zum Stimmen zu bringen, denn bis Zum letzten Pfennig sollte sie dem Vater Rechenschaft geben. Auch litt sie unter seinen spießbürgerlichen Gewohnheiten und schämte sich der Genauigkeit, mit der er die Dienstboten quälte und oft zun: Hause Hinaustrieb. Als Jeanne ihm einmal vorwarf: „Du machst dir nur Feinde; es wird dich niemand lieben," gab er zur Antwort:
„Wer in meinem Hause ist, wird ein tüchtiger, sparsamer Mensch, und dabei finde ich meine Rechnung."
Es war dem alten Herrn alles Geschäft, und die unbeschreibliche Nüchternheit und Klarheit, womit jede Lebensfrage abgethan wurde, legte sich Jeanne wie ein Meltau aus die Seele. Sie wunderte sich
jetzt oft, weshalb sie eigentlich im Kloster nicht glücklicher gewesen war; dort hatte sie im Verkehr mit gleichalterigen Freundinnen fröhliche Stunden genossen, während sie sich jetzt mit den paar Fabrikantentöchtern, bei denen sich alles um die engen Verhältnisse des Fabrikstädtchens drehte, durchaus nicht wohl fühlte.
Im Kloster hatten ihr die meisten ihrer Mitschülerinnen Zugesagt, und nur an sich selbst hatte sie immerfort auszusetzen gehabt. Niemand war so lang, so blond und so still wie sie; wie oft härmte sie sich im geheimen ab, daß sie so ganz anders war als diese entzückende, lebenssprühende Marie Toussaint, ihr Ideal. Aber was hals es ihr, daß sie ihr angeborenes Selbst verlengnete? Die Vorzüge der Freundin vermochte sie sich darum doch nicht anzueignen. Sie wußte auch ganz genau, daß ihre Mitschülerinnen sie heimlich ,Mo earreo" nannten, und Marie Toussaint selbst hatte sie einmal eine „sentimentale Deutsche" genannt, weil sie ihr Ideal unter heißen Thränen der Untreue beschuldigt hatte.
Jeanne hatte plötzlich ihr unruhiges Auf- und Abgehen unterbrochen und lehnte sich zum Fenster ihres Boudoirs hinaus. Was war das? Theres, die Tochter des Gärtners, unterhielt sich aus das allersreundlichste mit einem Manne jenseits des Gitters, der eine deutsche Uniform trug. Sie genierten sich kein bißchen, lachten und scherzten ganz laut, so daß Jeanne jedes Wort hätte verstehen können. Aber sie schloß empört das Fenster; was sollte sie thun? Wenn sie mit ihrem Vater sprach? — Doch sie wußte, er Pflegte alles anders anfzufassen als sie und fand gewöhnlich eine Sache komisch, die ihr sehr ernst vorkam. Besser also, sie redete selbst mit Theres und hielt ihr das Unstatthafte ihres Betragens vor. Aber nicht gleich; erst wollte sie ruhig werden, sich selbst in der Gewalt haben. Sie ging in ihr kleines, nach Norden gelegenes Atelier und war bald in ihre Beschäftigung vertieft. Sie malte einen Teller für Marie Toussaint; sie war überhaupt immer mit einer Arbeit für diese Freundin beschäftigt, an der sie mit der ganzen Zärtlichkeit ihres Herzens festhielt. Marie Toussaint war sofort nach ihrem Austritt aus dem Kloster mit ihrem Onkel Toussaint verheiratet worden.
Beim Hochzeitsmahl hatte Marie gelacht und gescherzt, während die Freundin Jeanne mit ihren Thränen kämpfte. „Was hast du nur?" flüsterte ihr die junge Braut ins Ohr. Aber sie erhielt keine Antwort; Jeanne verstand selber nicht, was sie so tief bewegte; sie mußte nur immer das so ungleiche Paar ansehen, und die Frage drängte sich ihr aus: Wozu denn jung sein und reizend und begehrenswert, wenn das das Ende ist?
Indes der erste Besuch im Heim der jungen Frau hatte Jeanne über deren Schicksal beruhigt: Marie Toussaint hatte sich nicht nur nicht verändert, sie war im Gegenteil womöglich noch ausgelassener als zur Klosterzeit, und Jeanne, die zu Hause ganz verlernte, jung Zu sein, kannte kein größeres Glück auf Erden als ihre jährliche Reise nach Paris, wo sie mit Marie Toussaint und den guten Nonnen, die sie erzogen, nach Herzenslust plaudern konnte.