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Fleöer Land und Wcer.
„Du hast mich nie gekannt," fiel ihr die Französin mit großer Lebhaftigkeit ins Wort, „es ist nicht meine Schuld, daß du eine halbe Heilige aus mir gemacht hast — es hat mich oft gelangweilt! Was weiß ein junges Mädchen, und noch dazu ans der Provinz, vom Leben? Das Bravsein, wie man sich's im Kloster vorstellt, ist ein sentimentaler, altmodischer Begriff, es hat keinen Sinn, daran zu Grund zu gehen — ich wenigstens, ich will nicht umsonst gelebt haben. So, nun weißt dn's, das ist die Marie Toussaint, nun gieb dir ein wenig Mühe und finde dich darein."
Statt aller Antwort barg Jeanne das Gesicht in ihren Händen und brach in die bittersten Thränen aus. Marie Toussaint sah mit großen, verwunderten Augen aus das zuckende Geschöpf hin: war das Jeanne, die stille, maßvolle Jeanne? Sie ging zu ihr hin und legte die Hand aus das schöne, aschblonde Haar.
Mlloim, mn ebörs, fasse dich — wir sind so verschieden und können doch nichts dafür — komm, stehe auf — ich habe dich nie so gesehen — du mußt dir die Augen waschen."
Jeanne griff nach ihren: Hut; es war ihr alles einerlei, sie wollte nur fort; die Freundin ordnete ihr den Schleier.
„Ich lege ihn dir recht faltig übers Gesicht, damit man die verweinten Augen nicht sieht; wie unvernünftig, so zu weinen — aber reden wir nicht weiter — es hilft doch nichts. Habe ich dir für den hübschen Teller gedankt, den du mir bei deinem ersten Besuch gebracht hast? Er ist reizend! Arme Jeanne, du dürftest es freilich nicht machen wie ich — ich will dir einen guten Nat mit ans den Weg gebe:: — heirate aus Liebe, wie es die Deutschen thnn, das ist das einzig Nichtige für dich."
Sie geleitete die Freundin vor die Thür und warf ihr eine Kußhand nach: „Du hast mich ganz nervös gemacht, du großes kindisches Geschöpf."
Jeanne eilte die Treppe hinunter; sie schämte sich; sie kam sich mit ihren heißen, schmerzenden Augen mit einemmal ganz lächerlich vor. —
Und nun die Stille im Hause, die ländliche Abgeschiedenheit nach allem, was sie in Paris erlebt!
Für Marie Toussaint kleine Überraschungen ans- zndenkcn, in langen Briefen sich gegen sie aus- znsprechen, das war bisher Jeannes liebster Zeitvertreib gewesen, und damit hatte es nun ein Ende.
Auch war es ihr unmöglich, fürs erste wieder an ihre Nonnen zu schreiben, deren Scharfsinn und Menschenkenntnis ihr nun in einem so ganz andern Lichte erschien.
Neben den: Schmerz um ihre Freundin nagte diese bittere Erfahrung fortwährend an ihren: Herzen, und mit jeden: Tag erschien es ihr ungerechter, wie hart und streng man gegen sie gewesen war, bloß weil sie ein Buch von Goethe gelesen.
Bald trieb es sie in den Garten, der jetzt in: schönsten Frühlingsschmnck prangte, dann wieder eilte sie ins Haus, wußte nicht, was sie treiben sollte, und kan: schon in der nächsten halben Stunde wieder in den Garten. Sie war froh, wenn sie die Gärtnersfrau
bei der Arbeit traf, denn sie hatte immer etwas zu erzählen; zum Beispiel, wie schön der Herr Hauptmann nebenan in der kurzer: Zeit sein Gärtchen hergerichtet habe, und, was das Neueste war: daß ihn: Vichette ihre jungen Kätzchen vor die Thür gelegt hatte.
„Kei Wunder," meinte sie, „er isch halt oi gar so grausam g'mein mit Mansche un Tier."
Oder Jeanne saß im Hüttchen und hörte den Gesprächei: Zwischen den: Hauptmann und ihren: Vater zu; es war immer das gleiche; der letztere griff die Dinge scharf, hart und tadelnd an, der andre war der Vermittler. In den: milden Licht seiner Anschauungsweise bekam alles plötzlich ein andres Aussehen, und Jeanne fragte sich: ,Wns er wohl sagen würde, wenn ich ihn: meine Erfahrungen mit Goethe mitteilte?'
Eh' sie sich's versah, stand sie eines Tages an: Gitter; sie trug ein weißes Kleid, und der Hanpt- mann sah sie mit dem freudigsten Wohlgefallen an, während sie ihm ihr Erlebnis in: Kloster erzählte und mit den Worten schloß: „Sehen Sie, das hat mir Ihr Goethe eingetragen."
„Wie sollte es auch anders sein?" gab ihr der Hanptmann zur Antwort. „Nichts ist natürlicher, als daß die frommen Frauen jede Erkenntnis, jede Aufklärung von sich abwehren müssen; nur der Gedanke: ,Unser Kloster allein ist die rechte Stätte der Gottseligkeit und Tugend' kann ihnen das Dasein erträglich, kann sie glücklich machen. Die geringste Teilnahme ai: der Erkenntnis, an der Arbeit und dem Fortschritt der Menschheit müßte sie ja in ihrem innersten Wesen schädigen."
„Aber sie verlange:: von nur. . ." suchte ihn Jeanne zu unterbrechen.
„Daß Sie ebenfalls mit einer Binde vor den Augen durchs Leben gehen! Im Gegenteil, machen Sie sie nur recht weit auf, sogar aus die Gefahr hin, bei jenen frommen Nonnen als ein bemitleidenswertes Weltkind zu gelten."
Jeanne schüttelte den Kopf: „Es würde mir doch sehr schwer fallen, ganz mit ihnen zu brechen."
„Das sollen Sie auch nicht, nur allmählich das Verhältnis ein wenig verschieben, aus Ihren Briefen, aus Ihrem ganzen Wesen merken lassen: ,Jch bin nicht mehr das Kind, das eurer Leitung bedarf'. Herr Martelet und ich znn: Beispiel, wir sind ganz gute Freunde geworden, bloß weil wir unsre Nationen ganz außer acht lassen und uns daran halten, was wir sonst als Menschen sind. Kürzlich, da war's besonders schwer; was wir sprachen, das Buch, das wir lasen, alles führte direkt aus den Patriotismus hin; es war wie verhext! Aber mit welcher Grazie, mit welcher Liebenswürdigkeit der alte Herr jeden Stein des Anstoßes ans dem Weg zu räumen verstand! Natürlich gab ich mir alle Blühe, ihm nicht nachzustchen. Bein: Abschied sagte er: Mas meinen Sie, heute haben wir auch eine Schlacht gewonnen!'"
„Das sieht ihm ähnlich," sagte Jeanne, „abermit dem Kapitän werden Sie schwerlich so weit kommen."
Der Hanptmann lächelte: „Der ist ein Elsässer,