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Linksrheinisch.
Sie hatte den Frieden, nach dem sie sich gesehnt, in ihrem Kloster nicht gefunden. Die Nonnen waren ihr wie immer auf das liebevollste entgegen gekommen, und sie saß in ihrem Kreise und hörte die besorgten mütterlichen Fragen um ihr Seelenheil, ob sie die alte noch sei und nichts Fremdes, nichts Ungehöriges sich Zwischen sie und ihren Glauben gedrängt habe. Und Jeanne beichtete; sie war innerlich beunruhigt, sie hatte etwas gethan, was nicht recht war, sie hatte ein Buch von Goethe gelesen. Als wäre der Name Beelzebubs ausgesprochen worden, so erschreckt schlugen die Nonnen die Hände Zusammen, so entsetzt waren ihre Blicke, mit denen sie das junge Mädchen maßen, das vor ihnen saß und wie eine Sünderin die Augen niederschlug.
„Ich habe es ihr gleich angesehen, es ist nicht mehr die alte Jeanne!" hieß es.
„Goethe lesen, das ist so viel als seinen Glauben preisgeben! Ueberhaupt ein deutsches Buch zu lesen!"
„Unsre Jeanne! wer hätte das gedacht!"
„Wie anders ist Marie Toussaint, welch ein Unterschied!"
„Marie Toussaint hat nie andre Bücher als die ans unsrer Klosterbibliothek gelesen!"
„Das gute Kind!"
„Nehmen Sie sich ein Exempel an Ihrer Freundin, Jeanne!"
„Rühren Sie nie wieder diesen Goethe, diesen Freigeist an!"
„Aber," meinte Jeanne, „ich habe nichts Schlechtes gelesen, es ist im Gegenteil wunderschön, was er vom Elsaß sagt, und wie er vom Münster spricht, das dürften die frömmsten Menschen lesen. Ich glaube überhaupt nicht, daß es gut ist, wenn man so gar nichts von der Welt weiß, in der man doch leb? —"
„Ein junges Mädchen und etwas von der Welt wissen!" schrieen alle zusammen, und Jeanne fühlte es wohl aus dem Benehmen ihrer Erzieherinnen, aus ihren Worten: sie war in ihren Augen eine Verdammte, sie hatten sich innerlich von ihr losgesagt. Zugleich aber auch kam ihr dieses Eisern gegen eine Sache, von der sie nichts verstanden, unbeschreiblich kindisch vor, und als das schöne, reichverzierte Gitterthor des Klosters sich hinter ihr schloß, wußte sie: ich bin der alten Zeit entwachsen.
Aber sie nahm's nicht leicht, sie grämte sich und sehnte sich nach Marie Toussaint, um bei ihr Trost zu suchen. Zu ihrem Kummer hatte ihre Tante, bei der sie wohnte, immer etwas andres vor, so oft sie den Wunsch aussprach, ihre Jugendfreundin aufsuchen zu wollen.
Die Verwandtschaft des Monsieur Jean Merkte war eine weitverbreitete in Paris; alles wetteiferte, Jeanne Vergnügen zu bereiten, der armen, ihres Vaterlandes beraubten Elsässerin das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Allein, wie einst im Kloster, so war auch hier bei jeder Gelegenheit von ihrer tMo earreo die Rede, scherzweise freilich, und zeigte sie sich empfindlich, so machte man die Sache damit nicht besser, daß man sie eine sentimentale Deutsche nannte.
Endlich merkte sie, daß man sie mit Gewalt von Marie Toussaint Zurückhalten wolle, und als sie fragte, was man gegen ihre Freundin habe, wurde ihr die Antwort zu teil, die Manieren der jungen Frau seien zu frei, als daß ein junges Mädchen ohne Schaden für seinen Ruf bei ihr verkehren dürfe.
Marie Toussaint, die man ihr im Kloster als Vorbild hingestellt! Das war Verleumdung, konnte nur Verleumdung sein! Das junge Mädchen schwieg, aber sie wußte sich zu helfen. Ein junger Vetter, der sie auf einem Ausgang begleitete, that ihr den Gefallen, sie zur Wohnung der Freundin zu bringen, von wo er sie auch wieder abzuholen versprach.
Marie Toussaint empfing Jeanne; sie war reizend wie immer, und nachdem sie fast eine Viertelstunde lang von allen möglichen amüsanten Dingen geplaudert hatte, brach sie in komischer Verzweiflung in die Worte aus:
„Mein Gott, Jeanne, sitzest du nicht da wie eine Heilige, die um ihren Schein besorgt ist?"
„Es quält mich etwas," sagte Jeanne, „ich bin nicht gut mit den Nonnen auseinander gekommen — ich habe ihnen gesagt, daß ich ein Buch von Goethe gelesen —"
„Aber warum thatest du das, meine Liebe?"
Marie Toussaint warf sich laut lachend in ihren Sessel zurück und trommelte mit ihren allerliebsten kleinen Füßen aus dem Teppich herum. „Wer sagt denn alles, du arme, ehrliche Jeanne! Ich lese, was ich will —"
„Und holst deine Bücher aus der Klosterbibliothek?" siel ihr Jeanne ins Wort, „und sie haben dich mir als Vorbild hingestellt!"
Die junge Frau richtete sich auf. „Mein Gott, Jeanne," sagte sie, das junge Mädchen mit ihren sprühenden Augen anlachend, „was wissen unsre guten Nonnen vom Leben? Es schadet ihnen gar nichts, wenn man sie ein wenig täuscht, dagegen ist es ganz gut, sie zu Freunden zu haben; die Welt ist schlecht, so eine arme, junge Frau ist mancher Versuchung ausgesetzt — Paris ist kein Kloster, und die Leute reden viel."
Jeanne sah sie groß an: „Aber es ist nicht wahr, Marie, es ist nicht wahr, was die Leute reden?"
Wieder brach die junge Frau in ein Gelächter aus, aber es klang diesmal nicht so echt. Sie stand vor dem großen blonden Mädchen, dessen Hände die ihrigen umfaßt hielten, dessen Augen sich ängstlich forschend in ihre Augen senkten.
„lllli bleu," sagte die Französin und warf den Kopf zurück, „was wollen sie wissen, diese Leute — daß ich eine Verschwenderin bin? Das ist wahr — daß ich meinem Mann nicht ganz treu bin! Nun, man hat mich mit achtzehn Jahren an einen alten Mann verheiratet, und ich bin jung — ich will leben und nicht vor Langweile sterben — ich muß gestehen, ich kann das nur natürlich finden."
„Nein, nein," unterbrach sie Jeanne, „du redest nicht im Ernst, du willst mich nur ängstigen — du hast das immer schon im Kloster so gerne gethan — es macht dir Spaß, mich ein wenig zu quälen!"