Hiacomo Leopardi.
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engein Vorurteil befangenen Vater geriet er schon frühzeitig in ein unerquickliches Verhältnis, das sich für ihn um so drückender gestaltete, als er bei dem Mangel an eignen Mitteln und bei der Unmöglichkeit, sich angesichts des damaligen Zustandes der Litteratur auf eigne Füße zu stellen, trotzdem an das väterliche Haus gekettet blieb. Als er es endlich im Jahre 1822 verlieb, um nur noch dreimal während seines späteren Lebens zu kurzem Besuch in dasselbe zurückzukehren, war ihm das Los beschieden, von dem kärglichen Ertrage seiner Feder zu leben, in seinen Mannesjahren von Ort zu Ort umhergetrieben, „ohne eignen Herd, ohne Aussicht und Hoffnung auf eine gesicherte Existenz, ohne ein Feld für seine Kraft". Im Alter von vierzehn Jahren wurde er schon von den einheimischen Philologen als ein Phänomen von außerordentlicher Gelehrsamkeit angestaunt. Den vierundzwanzigjährigen Forscher umschwärmten und umschmeichelten im Jahre 1822 in Rom die bedeutendsten ausländischen Gelehrten, die sich damals in der ewigen Stadt aufhielten. Preußen bot ihm um jene Zeit — eine Ehrenpflicht, die das eigne Heimatland stets verabsäumt hat — durch seinen großen Geschichtsforscher Niebuhr den Lehrstuhl für griechische Philosophie an der Berliner Universität an.
Allein Krankheitsanfälle vereitelten damals wie später alle Zukunftspläne. Für die letzten sieben Jahre seines Lebens gewährte ihm das Hans seines Freundes Ranieri in Neapel ein Asyl, und hier ist er auch am 14. Juni 1837, vor völlig zurückgelegtem neununddreißigsten Lebensjahre, in den Armen des Freundes seinem tückischen Leiden erlegen. Seltsamerweise hatten sich in den letzten Jahren die Lebenshosfnungen des zu stetem Siechtum Verurteilten zu beleben begonnen, ja es scheint, als ob, wie ähnlich um dieselbe Zeit und unter dem nämlichen Himmelsstrich bei dem deutschen Dichter Platen, die Furcht vor dem drohenden Gespenste der Cholera das Lebensende beschleunigt habe.
Ob aber, wie behauptet worden ist, während der letzten Lebensjahre in der Brust des Mannes, der bis dahin den Lebenswillen so konsequent verneint hatte, daß er sogar den Gedanken an den Selbstmord von sich abgewiesen, weil das ein Wunsch gewesen wäre, während in seiner Brust ein Wunsch nicht mehr möglich gewesen sei, ein Umschwung der Ueberzeugung sich angebahnt hatte und es sogar, wie Heyse will, zu einer entschlossenen Bejahung des Willens zum Leben gekommen war, muß dahingestellt bkeiben. Auf die Gemütsstimmung Leopardis hatten allerdings äußere Umstände von Anbeginn ihren Einfluß ausgeübt: die trostlosen politischen Zustände Italiens während seiner Jugendzeit, der Uebermut der Fremdherrschaft, dann die Regungslosigkeit des öffentlichen Lebens, der Stumpfsinn und die Dumpfheit seiner näheren Umgebung und nicht zuletzt sein gebrechlicher Körperzustand, der ihm von seiner ersten Jugend an den alten Lehrsatz buddhistischer Weisheit, daß die Natur nicht das sei, was ihr Name besage, sondern eine Mortur, nicht ein ewiges Erwachen und Keimen zu neuem Leben, sondern ein ewiges Absterben des erwachenden Lebens, in seiner ganzen Eindringlichkeit gepredigt hatte. Auch noch etwas andres ist in Anschlag
zu bringen: die tiefe Verbitterung, die in seinem Gemüte das Mißverhältnis zwischen seinem brennenden Verlangen nach Liebe und seinem ungünstigen Aeußern zurückgelassen hatte; wie bekannt, war Leopardi zweimal während seines Lebens von einer glühenden, verzehrenden Leidenschaft zu einem weiblichen Wesen erfaßt worden und beide Male seinen Wünschen Gewährung versagt geblieben. Allein trotzdem wurzelt die Lebens- und Weltanschauung des großen Denkers und Dichters im Grunde in etwas anderm als in dem von der Außenwelt aus sein Gemüt ausgeübten Einflüsse. Das Phänomenale, wirklich an das Wunderbare Grenzende seiner Begabung liegt darin, daß sie sich mit derselben gewaltigen Kraft nach zwei Richtungen hin wendet, nach der des wissenschaftlichen Erkennen? und der des dichterischen Gestaltens. Der große italienische Lyriker hat tiefer nicht nur in seine Zeit, sondern auch in den ursächlichen Zusammenhang des Weltphänomens geblickt als die meisten der vor und mit ihm Lebenden. Einen schlagenden Beweis hierfür liefert uns seine berühmte Palinodie an den
Marchese Gino Capponi aus dem Jahre 1836, beiläufig die einzige Dichtung, in der ein scharfer, schneidender Sarkasmus sich äußert. An der Schwelle einer neuen Zeit stehend, überblickt hier der Dichter deren gesamte Entwicklung bis über die Grenzen des Jahrhunderts hinaus. Er sieht die Wissenschaft von Erfolg zu Erfolg schreiten und diese Erfolge in das Alltagsleben übertragen — die Macht der Presse entfaltet sich — Schienenwege schlagen Weltverbindungen — der Verkehr sucht seine Wege unter der Erde — Spindeln und Maschinen rasseln allenthalben, von Liverpool bis Paris — die Blitze Voltas und Davys wirken Wunder — und bis auf unsre Kleidung, bis in Küche und Vorratskammer erstrecken sich die Veränderungen und Neuerungen. Auch die Strebungen des öffentlichen Lebens liegen in ihrer neuen Richtung klar vor den Augen des Sehers, der unter anderm die Wendung vom Individualismus zum Kollektivismus als eine notwendige Folge gegebener Verhältnisse erkennt. Zwar fehlt nicht die stetig wiederkehrende Schlußwendung: Das alles ist nur eine Woge, die von einer folgenden wieder verschlungen werden wird, und das, was bestehen bleibt, ist einzig das traurige Menschenlos. Aber darum handelt es sich nicht, es galt nicht, den Pessimismus des Dichters, sondern als eine der wesentlichsten Quellen desselben den stark ausgebildeten kritischen Geist Leopardis darzulegen. Geradezu überraschen muß es heutzutage, wenn mau gewahrt, mit welcher Bestimmtheit er infolge seiner seltenen Kombinationsgabe bereits vor mehr als sechzig Jahren das Erwachen des Expansionsgelüstes in dem großen amerikanischen Freistaate Vorhersagen konnte, wie es in dem erwähnten Gedichte an Gino Capponi der Fall ist:
„... von Leichen wird Europa starren und das andre Ufer Des weiten Ozeans, das der Gesittung Stets neue Nahrung giebt, so oft zum Kampf Es Bruderschareu sendet, handle sich's Um Pfeffer, Zimmet, Zuckerrohr und all Die andern Würzen, oder was nun immer Den Sinn der Menschen nach dem Golde lenkt."
Giacomo Leopardi.