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Ueber Land und Meer.
M 2
Tartarin auf dem Rade.
Muk v. SchönLhan.
-Maudets Mützenjäger aus Tarascon, der die zahmen
Löwen erlegt und die Alpen bändigt, ist ein Typus, eine Figur wie Falstaff, Tartüff, Ibsens Hjalmar (Wildente) und andre. Der wackere Tarasconese ist kein Privilegium seiner schönen südfranzösischen Heimat, auch unter uns weilen Tartarins in allen Spielarten, und wer ein bißchen Glück hat, lernt bald einen kennen.
Ich kenne einen rad fahrenden Tartarin, e-iiie moderne Abart. Den Namen will ich beibehalten, denn bei Daudet darf man schon eine kleine Anleihe machen. Ja — Tartarin ist aufs Rad gestiegen, wie alle Welt; er fährt, oder genauer gesagt, er „steht" Rad. Wiederholt habe ich ihn an verschiedenen Punkten der Stadt, an belebten Kreuzungen, in stillen Seitenstraßen, an sein blitzblankes Rad gelehnt, stehen sehen, als erwarte er etwas, unbekannt was; dabei fährt er sich mit dem Taschentuch wohl auch übers Genick und die Stirn wie einer, der eine tüchtige Anstrengung hinter sich hat. Manchmal sieht er einen Bekannten, oder er wird von einem der Fußgänger erkannt: „All Heil!"
Tartarin grüßt nicht mehr anders. Er hat es gern, wenn man stehen bleibt und sein Rad betrachtet, das schlanke, zierliche, gazellenartige Fahrrad mit der abenteuerlich gebogenen Lenkstange, auf der eine Uhr in einem Etui befestigt ist. Und wenn dann, wie es üblich ist, der Beschauer sein Urteil in die Worte znsammensaßt: „Ein sehr schönes Rad," nickt Tartarin wohlgefällig und-führt mit dem Handschuh über die blanke Lenkstange; und manchmal fügt er hinzu: „Amerikanisch — man bekommt sie hier gar nicht, zehneinhalb Kilo — läuft wie eine Rennmaschine."
Manchmal drängt sich einem Beschauer die Bemerkung über die Lippen, daß das Ding ein bißchen zart aussehe, worauf Tartarin die beruhigende Auskunft erteilt, daß er j es eigens habe so bauen lassen, weil er für seine weiten ^ Touren, für Bergfahrten und dergleichen ein schweres Rad ! überhaupt nicht brauchen könne. Aber es fei desfenungeachtet j solider und dauerhafter als die schwersten Maschinen, es ! habe sich auf dem Brenner, auf dem Weg von Innsbruck nach Cortina, und fo weiter glänzend bewährt. „Es" — das Rad, fein Rad, das große „Es" seines Lebens.
Tartarin hat im vergangenen Sommer allerdings Ansichtskarten aus Tirol an feine Freunde geschrieben, er ist dort gewesen, das wäre historisch festzustellen; aber „es", das Rad, begleitete ihn gewöhnlich im Gepäckwagen des Eisenbahnzuges, oder es lag auf dem Dach des Postomnibus. Dagegen muß konstatiert werden, daß Tartarin alle Wege aus den Radfahrerkarten kennt, aus der Fachliteratur, die ihm fein Buchhändler Zuschickt, uud die er, auf dem Sofa liegend, durchstudiert. So weiß er, wie die Straße zwischen Halle und Naumburg beschaffen ist, und jene von Rostock nach Warnemünde, auch über die Kilometerzahl der üblichen Touren ist er unterrichtet, er kennt die Spezialkarte von Mitteleuropa wie ein Villenbesitzer die Alleen und Wege seines Gartens.
In seinem Aeußern präsentiert sich Tartarin als Bicycle- sportsman 60 MIN 6 il taut. Man sieht ihn nur im Sweater, der deu Hals bis zum Kinn umschließt; sein Anzug ist, ent- ! sprechend der Jahreszeit und der Temperatur, hell oder dunkel; I auf der Mütze und an der Jacke trägt er die Abzeichen verschiedener Bicycleklubs; seine Wollenftutzen, die den Umfang seiner an sich dürftigen Waden prahlerisch vergrößern, bezieht er direkt aus England, und die Halbschuhe tragen, nach dem Muster der professionellen Rennfahrer, Gummisohlen. Er behauptet, daß man „nur" mit solchen Schuhen fahren kann.
Ueberhaupt läßt feine Ausrüstung nichts zu wünschen übrig. Für die kleinen Köter, die besonders auf Landwegen eine Gefahr für den Radfahrer bilden, hält er die Peitsche und Knallerbsen in Bereitschaft, während er größere Hunde, die in der Verfolgung beharrlicher sind, mit dem Taschenrevolver, den er verborgen im Gurt trägt, niederzustrecken pflegt — fo sagt er.
Die Requisitentnsche enthält außer den üblichen fein vernickelten Werkzeugen eine kleine Rolle Verbandwatte, für den Fall eines Malheurs, einer Verwundung, worauf ja eil: schneidiger Terrainfahrer immerhin gefaßt sein muß. Tartarin ist mehr als einmal gestürzt! Es giebt nach seiner Versicherung keine Stelle an seinem Körper, die nicht zeitweise blau oder gelb gefärbt war; er hat sich verschiedene Sehnen gezerrt und auf einer Tour im Schwarzwald das Gesicht ganz jämmerlich zerfchunden. Ein ernster Unfall ist ihm aber — wie er stets unter Hinzufügung des „Un-
Es kommt eben sehr auf die Geschicklichkeit beim Fallen an. Tartarin hat durch Scharfsinn und Uebung eine eigne Methode des Stürzens ausgebildet, er ist wocheulang in feinem Studierzimmer Probe gefallen und von Stühlen und Tischen abgesprungen. Er unterstützt feine Geschicklichkeit im Fahren durch eine methodisch betriebene Zimmergymnastik, die jeden Morgen im Bett beginnt. Er legt sich auf den Rücken und vollführt tretende Bewegungen, biegt die Beine aus, wie es beim Beschreiben kleinerer Kurven notwendig ist, eine Uebung, die feinen etwas steif gewordenen
Gliedern sehr zuträglich ist. Dieser Bettgymuastik folgt ein Exercitium der Zimmergymnastik, um die Geschmeidigkeit für die Erfordernisse des Radfahrens zu erhöhen.
Mit diesen praktischen Uebungen gehen theoretische Studien Hand in Hand. Tartarin stellt sich selbst Aufgaben, die er auf die Tischplatte des Cafes, auf den Rand einer Zeitung zeichnet. Zum BeWel A. B.: eine enge Straße mit zwei Abzweigungen. Von vorn links kommt ein Omnibus C., auf der anderu Seite eine Equipage D. im scharfen Tempo; aus einem der Quergäßchen F. wird gleichfalls Wagengerassel hörbar, der Radfahrer mitten darin. Was hat er zu thun? Wie befreit er sich aus der Verlegenheit? Und er brütet nun wie über einer Schachaufgabe.
Hat Tartarin seine praktischen Morgenübuugeu, denen eine kalte Abreibung folgt, beendigt, so wirft er sich in Dreß, und vor dem Thor wartet bereits fein Rad. Er läßt seine prüfenden Blicke darauf ruhen, betastet die Pneumatik, läßt die Bremsvorrichtung spielen und die Glocke Probe läuten, und daun „hopp auf!"
Er biegt um die Ecke, und in der nächsten Straße fühlt er die Unbequemlichkeit, die das ansgefahrene Straßenpflaster dem Radfahrer bereitet. Er steigt ab und schiebt sein Rad vor sich hin, bis zur andern Ecke. Das ist einer jener Punkte, an denen man Tartarin stehen sehen kann. Da kommt gerade ein Bekannter des Weges.
„All Heil!" ^
den Kilometerzähler unten an der Achse des Vorderrades, dann nickt er befriedigt. Diese Uhr zeigt eine prahlerisch hohe Zahl, denn Tartarin läßt die Ziffern weiterschreiten, eine Woche lang, uud mindestens ein Drittel der Kilometerzahl kommt auf Strecken, die nicht fahrend, sondern „schiebend" zurückgelegt wurden. Mau will Tartarin sogar einmal dabei überrascht haben, wie er zu Hause aus einem Stuhl saß, das Vorderrad iu Schwung bringend, eine halbe Stunde lang, um eine hohe Kilometerzahl zu erreichen. Aber niemand hat es wirklich gesehen, es ist vielleicht nur eiue boshafte Erfindung.
Tartariu vergeudet die Zeit nicht, wenn er fo an fein Rad gelehnt an einer Straßenecke steht. Er beobachtet, er studiert. Er hält Selbstgespräche: Wie würdest dn dich verhalten, wenn jetzt dieser Omnibus rechts einbiegen würde? Was thätest du, wenn diese Equipage dir nicht answeichen würde? Uud so weiter.
Tartarin beschäftigt sich mit solchen Fragen, die ihm der lebhafte Straßenverkehr in mannigfaltigster Weife aufdrängt, und er löst die schwierigsten, kompliziertesten, die Geistesgegenwart und Geschick verlangen.
Eine romantische Grille sind Tartarins nächtliche Fahrten. Oft, schon nach Schluß des Hausthors, erscheint er mit dem Rad, dessen Laterne einen grellen Lichtkegel vor sich hinwirft. Da und dort sehen noch Leute aus den Feilstern, nur den Sommerabeud zu genießen, wenn auch sonst nicht viel zu sehen ist. Da tritt „Er" mit dem Rad aus dem Haus.
Tartarin unternimmt eine nächtliche Fahrt! Er prüft noch einmal die Laterne mit dem spiegelblanken Reflektor, dann steigt er in den Sattel, und lautlos rollt er auf dem gespenstigen Vehikel die stille Straße hinab Er muß etwas Vorhaben, denn man konnte gewahren, daß er einen Mantel vorn auf der Lenkstange angeschnallt hatte. Solche nächtlichen Partien erfordern ein gutes Auge und eine Sicherheit, die nicht jedermanns Sache sind.
Wo mag er hinjagen? Dem Sonnenaufgang entgegen? Ein Teufelskerl! Der Tag genügt ihm gar nicht mehr! Und er weiß, daß man so von ihm redet, er empfindet ein Lustgefühl bei dem Gedanken, die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft, ihre Neugierde, ihre stille Bewunderung erweckt zu haben.
Tartarin fährt durch einige Straßen; er klingelt, ohne daß es not thut, weil ihm bei diesem stillen Dahinfahren merkwürdig unheimlich zu Mut wird; er hat das Bedürfnis, ein Geräusch zu verursachen, wenn er sich auch gleichzeitig nicht verschweigt, daß es unvorsichtig ist, dadurch einen nächtlichen Ueberfall zu provozieren und Strolche aufmerksam zu machen. Ein Rad ist ein Wertobjekt, uud es giebt genug Spitzbuben, die noch keine „Maschine" besitzen und
erleuchteten Cafes sichtbar. Tartarin erinnert sich, noch kein Abendblatt gelesen zu haben. Also vorwärts!
Vor der Thür hält er, sitzt ab uud legt die Sperrvorrichtung an. Dann fetzt er sich vor das Cafe, auf das mit Epheurauken umstellte Trottoir, dicht neben fein Rad, und indem er nach feiner Gewohnheit Hals und Stirn mit dem Taschentuch trocknet, bestellt er eine Erfrischung Er vertieft sich in die illustrierten Journale und genießt wohl eine Stunde lang die Sommernacht.
Ungesehen kehrt er heim, denn die Fenster haben sich inzwischen geschloffen, die Straße liegt in nächtlichem Dunkel, keiner der Nachbarn und kein Visavis hat seine Zurückkunft abgewartet. Und manch einer ist vielleicht mit dem Gedanken zu Bett gegangen : Ja, wer da mitkönnte, wer das Rad, den Mut, die Beherztheit und die Geschicklichkeit Tartarins hätte!
Der Neid ist wohl zumeist eine thörichte uud ungerechtfertigte Empfindung, aber der Tartarin des Rades ist zu be
neiden ; er ist einer der Glücklichsten unter all seinen Sport- genosieu, die kühnsten und geschicktesten nicht ausgenommen. Auf dem Rad erlebt er einen Traum von Heldentum, der ihn mit Hochachtung vor sich selbst erfüllt, fein Selbstgefühl trägt ihn hoch über die fußgängerischen Philisternaturen, er steht inmitten von Gefahren, und jede Minute kaun vou ihm eine außerordentliche Bravour verlangen. O, der Augenblick mag nur kommen, Tartarin wird seinen Mann stellen... All Heil!
MomenMlöer aus Zenares.
I)r. K. Woeck (Dresden).
eueres, die berühmte Stadt der 1500 Tempel, der Wallfahrtsplatz der Hindu am heiligeu Ganges, enttäuscht wohl jeden modernen Globe-Trotter, der Indien durcheilt. Die rauhe Wirklichkeit entspricht nicht den Vorstellungen, die er sich von den Tausenden dort badender Hindufrauen und -männer zurechtgelegt hat. Mit einem blasierten „Nichts Besonderes, nichts Originelles" thut er die Erinnerung an Benares ab.
Und doch ist Benares für den Forscher indischen Volkslebens eine unerschöpfliche Fundgrube, die ich mit stets vermehrter Freude auf meinen indischen Reisen besuchte. Frei-
der Natur im Himalaya, aus den reinen Lüften des erhabensten Gebirges der Welt herniedersteigend, Benares zum erstenmal berührte, da konnten mich die zum Himmel qualmenden Opfergerücbe von schmelzender Butter und brennendem Kuhdünger, die unsauberen, zerfallenden Tempel an deu trübtraurig dahiuschleichendeu, lauen Gangesfluten nicht sonderlich begeistern; hatte ich doch diese selben Fluten erst wenige Monde zuvor so jugeudfrisch aus ihreu krystalleueu Gletscherquellen am Himalaya hervorsprudeln sehen. Bei meinen späteren Besuchen aber kümmerte ich mich wenig um das ästhetische Unbehagen, das im Dunstkreis der „dreimal heiligen" Stadt Benares keinen reinen künstlerischen Genuß aufkommen läßt.
Forschen wir heute nicht deu mythologischen Gründen der Heiligkeit dieses Ortes nach, den der Hindu ja für eine der Verkörperungen seines Gottes Schiwa betrachtet. Kein Wunder, daß hier alles auf den Schiwa-Kultus Bezug hat. Der große Tempel, der einst dem andern Hauptgott der Hindu, dem Wifchuu, gewidmet war, liegt in Trümmern, auf deuen der siegreiche Großmogul Aurungzeb am Eude des siebzehnten Jahrhunderts die schlanken Minarets einer Moschee erstehen ließ, um weithin zu verkünden, daß der Islam den brahminischen Hindu-Kultus zu Boden geschmettert habe.
Hindu nach ihrer Fayon selig werden zu laffeu uud iu ihrem Kultus nicht zu stören.
Die Sehenswürdigkeiten von Benares sind schon oft beschrieben; dieselbe Horde fremdenführender Halunken treibt die europäischen Reisenden tagaus tagein hastig und geräuschvoll aus den Ställen der heiligen Kühe im „goldenen" Tempel zu dem-Tempel der heiligen Affen, von den blendenden Badeghats zu dem sumpfigen Erlösungsbruunen, bis der übersättigte Reisende froh ist, den ganzen Tumult im Rücken zu haben — obgleich er oft den Wald vor Bäumen nicht gesehen hat
Schlau, wie der Hindu nun einmal ist, bemüht er sich nämlich, den verhaßten Europäer möglichst wenig an die Stellen gelangen zn lassen, an denen das indische Leben in aller Stille die vollsten, schönsten Blüten treibt. Vor allem sucht der Hindudiener die Kahnfahrt längs der Badeplätze, die Glanznummer des Reiseprogramms seiner Herrschaft, möglichst reizlos zu machen. Angeblich fehlt es bald an Fahrzeugen, bald an Fährleuten. Der Reisende ahnt es nicht, wie sich, indem er die entzückend kühlen Morgenstunden unwirsch verwarten muß, die Physiognomie des Gaugesstrandes zu seinen Uugunsten ändert. Während im Scheine des Mondes, im Schimmer der aufdämmernden Morgenröte nur Vertreter der höchsten Kasten, Rajahs und Brahminen, edle Frauen uud zarte Mädchen, in hellfarbige Muffelintücher gehüllt, im Wasser stehen uud das Gangesnaß aus goldenen oder silbernen Lotaschalen über ihre Glieder schütten, unbekümmert um das sonst in Benares so streng beobachtete System der Frauenabschließung, werden von Stunde zu Stunde die Badenden „minderwertiger" ; sind schließlich nur noch armselige, verkümmerte Gestalten der Letzten des Volkes an den Ufern zu sehen, daun erst läßt der listig lächelnde Hinduführer den Europäer großmütig dieses Schauspiel genießen, der dann feiner Enttäuschung natürlich gereizten Ausdruck verleiht So auch in den Tempeln Wohl sieht der Reisende genug derselben und darinnen widerliche, unsaubere Bettler und Brahminen niederen Ranges in Menge, aber die Thore der geheimnisvollsten „Nonns", die Klöster und Zufluchtsorte europäerfeindlicher, bald nur noch in Legende-: vorkommender Büßer aus den vornehmen Klaffen des Volkes bleiben ihm verschlossen.