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Deutschland.
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steht. Es geschieht nichts, sondern es bleibt unter obligatem Stammeln alles beim alten. Zum Schlüsse stirbt zwar einer, aber das ist auch nur so zufällig wie in der „Familie Selicke." Die Gespräche könnten, ebenso charakteristisch aber auch ebenso ziellos, noch einige Stunden weitergehen. So wenig eine Symphonie oder auch ein Wagnersches Tonstück dadurch zu stände kommt, daß sämtliche Geräusche und Klänge der Straße oder des Waldes oder der Schlacht oder des Vieh- Hofs einfach neben- und nacheinander nachgeahmt werden, ebenso wenig entsteht ein Drama dadurch, daß irgend ein wirklicher Vorgang aus dem Leben wiederholt wird. Charakteristisch ist am Ende alles, wenn es gut gesehen wird; aber der Künstler that bisher noch aus Eigenem hinzu, um das Kunstwerk zu schaffen. — In einem Motto beruft sich der konsequente Naturalist erstaunlicherweise auf Lessing. Das war überflüssig und gefährlich. Überflüssig, weil es ja wirklich für die Berechtigung des Naturalismus ganz gleichgültig ist, ob Lessing sich dafür oder dagegen citieren läßt; und gefährlich, weil Lessing viel zu logisch schrieb, als daß eine aus ihrem Zusammenhang gerissene Stelle Beweiskraft haben könnte. In seiner Abhandlung über die Fabel wendet sich Lessing gegen den alten Philister Batteup und gebraucht da die Worte, welche Hauptmann für sich in Anspruch nimmt: „Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von verschiedenen Gedanken, uw eine die andere aushebt, eine Handlung sei." Lessing denkt offenbar an das bürgerliche Trauerspiel im Gegensätze zur Staatsaktion und ahnt allerdings mit seiner unerhörten Geistesweite schon das psychologische Drama. Aber auf den deutschen Naturalismus paßt weder die Stelle noch die Abhandlung. Lessing ist es gerade, der hier selbst für die kleine Fabel eine Handlung verlangt, die er definiert als: „Eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen." Batteux habe die Handlung der Fabel mit der Handlung des Dramas viel zu sehr verwirrt. Um den Verlauf der Geschichte bekümmere sich der Fabulist nicht, der dramatische Dichter aber müsse den Fragen (nach dem Schicksal der handelnden Personen) vorbauen. „Und so wird man hundert Beispiele finden, daß wir uns zu einer Handlung für die Fabel mit weit Wenigerem begnügen, als zu einer Handlung für das Heldengedicht oder das Drama." Der deutsche Naturalismus könnte ja gegen Lessing recht haben; sicherlich aber giebt ihm Lessing nicht recht. l'm.
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Zeitgemäße Betrachtungen über schöne Kunst. Von Ronald Keßler. (Berlin, 1890. Siemenroth und Worms.)
Es wäre immerhin zu empfehlen, in einigen feuersicheren Bibliotheken dieses Büchelchen in starte eiserne Kästen zu legen, damit man es in einigen Jahrtausenden oder Jahrzehntausenden wieder vorhole und nachsehe, was von den Prophezeiungen und Wünschen dieses einsiedlerischen Geistes eingetroffen ist. So gar „zeitgemäß" also erscheinen diese Betrachtungen nicht. Manches ist sogar sehr altmodisch, vieles ist Windmühlenkampf, einiges wird lang und breit demonstriert, woran kein Mensch mehr zweifelt. Indessen ist das Schriftchen bisweilen auch für Moderne nicht uninteressant, indem es den Kopf ein wenig über die kleinlichen Kämpfe der Gegenwart erhebt. Unsere Sprachen seien so ziemlich „dnrchgedichtet," meint der Verfasser, doch werde früher oder später ganz unbewußt von den „Dichtern," die zunächst bloß mit neuen Lauten spielen, ohne Sinn hineinzubringen, eine neue großartige Sprache geschaffen werden. Überhaupt hält der Verfasser Musik und Poesie für eng zusammengehörig, während die Skala in Wirklichkeit doch ist: Sinneseindrücke (Musik), Gegenstände (Plastik), Begriffe (Sprache und Poesie). — Auf wie hoher Warte Ronald Keßler steht, zeigt der Schlußsatz seiner Schrift: „Und ebenso wie es unzweifelhaft der Wissenschaft einmal gelingen wird, die Bewegung der Erde und aller Gestirne dem Willen des Menschen zu unterwerfen, so daß er dieselbe lenkt, wie er will, in ebenso ungeheurem und ungeahntem Maße wird sich die Kunstentwickelung auf dem unterworfenen Stoffe entfalten, und sie wird Blüten tragen, von deren Schönheit wir auch nicht einmal eine Ahnung aussprechen können."
Dieser Gedanke ist großartig, aber sicher altmodisch, vorkvpernika- nisch, geocentrisch und wahrscheinlich falsch. Möglich ist es doch immerhin, daß uns bei der Arbeit höherstehende Wesen anderer Gestirne zu
vorkommen, und ausgeschlossen ist es nicht, daß vorher unser ganzes Weltsystem in Trümmer geht und alles organische Leben und alle Men- schentränme und auch den eisernen Kasten mit Herrn Keßlers Schrift begräbt. Dann beginnt eben eine andere Entwickelung von vorn. I.
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Unser heutiges Judentum. Eine Selbstkritik von vr. S. Leon. (Berlin 1890, Verlag von Walther und Apolant.)
Der Verfasser scheint ein braver und besonnener Mensch, und seine Vorschläge sind alle vernünftig, besonders der Gedanke, den jüdischen Feiertag vom Sonnabend auf den Sonntag zu verlegen. Haben selbst Päpste in Kalenderänderungen gewilligt, so sollten Rabbiner sich nicht dagegen sträuben. Auch eine neue Berechnung der jüdischen Feste wäre nicht ausgeschlossen, so daß wenigstens Ostern und Pfingsten mit den christlichen zusammenfielen. Leider begründet Or. S. Leon seine gute Sache recht schwach und versucht den Gegner nicht so sehr zu entwaffnen, als ihn einzuschläfern. —2.
Tiroler Bauernspiele von Franz Lechleitner. (Eisenach, Bacmeister.)
„An der Hand der Tradition dem stete und innerlich arbeitenden Volksgeiste abgelausctst, angepaßt und nachgebildet" - so sind nach Lech leitners Ansicht diese Bauernspiele, welche außerdem das „nationale Innere des Volkes" vergegenwärtigen und endlich eine gedeihliche Ver bindung bringen sollen „zwischen den abgestorbenen und versinkenden Welten und einer neuen, ringenden entwickelungssrohen Zukunft des Volkes." Was Lechleitner hier in nicht gerade mustergültiger Prosa von seinen Dichtungen erwartet, wird sich kaum erfüllen, wenn sie auch „daheim die Zustimmung des Volkes in glänzender Weise errungen" haben. Wir wenigstens haben nicht vermocht, irgendwelche innerlich nationale Eigenarten aus diesen drei tiroler Bauernspielen herauszu lesen, trotz der reichlichen Belehrung und Hinweisung, die Lechleitner in dem Vorwort und den drei Einleitungen giebt. Im ersten Stücke, einem „Nationalspiel" in fünf Bildern, betitelt „Joseph Speckbacher, der Schützenmajor von Rinn," wird die Erhebung des tiroler Voltes gegen Frankreich und Bayern, oder wie Lechleitner so schön sagt „wider den fränkischen Raubtitanen" geschildert, und der Dichter hält sich etwas darauf zu gute, daß er auch eine „kleine Kulturgeschichte des Landes" giebt. Glücklicherweise wird das mit der Kulturgeschichte nicht so schlimm, wie wir nach dieser Erklärung gefürchtet hatten; es zeigt sich, daß mit der „kleinen Kulturgeschichte" nur die Wiedergabe des Lokal- und Zeit kolvrits gemeint ist. Übrigens ist dieses Stück das beste des Buches, es geht ein frischer, dramatischer Zug durchs Ganze, die Sprache ist meist volkstümlich und oft auch kernig, wie sehr auch die Figuren konventionell gezeichnet sind. Schlimm aber steht es mit der Bauerntra gödie „Sonnwendgluten." Zwar meint Lechleitner, daß hier die Leidenschaft des Volkes „wuchtig und voll wie die Macht des April Wetters treibt und schasst," wir haben aber nur Künstelei und Prasen tum gefunden. Und wenn der Dichter sich rühmt, die vorgeführten Gestalten seien mitten aus dem tiroler Leben auf die Bühne gesprungen, so müßte das ein kurioses tiroler Leben sein. Die Fabel ist die hinlänglich bekannte: die vom Bauernhof verstoßene Dirne rächt sich an dein Großbauern. Und da hier alle anderen Figuren unnatürlich und unecht sprechen, so kann man's auch der wild ausgewachsenen Lonei nicht verdenken, wenn sie droht, sie wolle mit ihren Händen die armseligen Fetzen der Welt zerreißen, und wer feststehen wolle, müsse ein Marmor- Herz in der Brust und Stahladern im Hirn tragen! Das mag ja so der Gesprächston in den tiroler Alpen sein. — Sehr gespannt waren wir auf die Ritterkomödie „Die Schlangenburg auf Frankenstein," denn hier verspricht uns Lechleitner unter anderem einen „Abstich reiner Poesie" und einen „im buntverslickten Gewände der Ironie dahinhüpfenden" Humor. Leider aber findet sich trotz der wiederholten Versicherung des Verfassers weder Humor, noch Ironie, noch Satire — es ist eine bloße Nachbildung der Ritterkvmödien, recht und schlecht. Sie ist auch aufgeführt worden und hat in „klarer Milde und gewinnender Frische" gewirkt. Dann hat man's also als wirkliche Ritterkomödie auf- gefaßt, und eine solche heute zu schreiben ist wirklich kein Ruhmestitel.
8t.
Verantwortlicher Redakteur: Fritz Mauthner in Berlin >V., Frobenstrabe 33. — Druck und Verlag von Carl Fleniming in Glogau.