60 Fontane Blätter 109 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte erblickt:»Nur einmal hatte Anton eine Kunstreiterin gesehen[...]. Schon damals hatte er mit unsäglicher Bewunderung die schöne Reiterin betrachtet, und jetzt war er ganz der Mann, dasselbe Gefühl womöglich in stärkerem Grade zu empfinden.« 45 Lenore und Effi – beide bieten»ein Bild frischesten Lebens«, beide sind »jugendlich reizende Geschöpf[e]« 46 . Die Figuren Lenore und Effi sind eingebunden in eine jeweilige Gartenszene, die bis in einzelne Handlungselemente hinein parallel gestaltet sind. Doch darf man darüber nicht außer Acht lassen, dass der jeweilige Kontext ein höchst unterschiedlicher ist. In Soll und Haben ist in der Tat noch alles eitel Sonnenschein. Denn das Unglück der Familie Rothsattel beginnt erst mit dem fatalen Entschluss des Freiherrn, sich auf die windigen»Geldgeschäfte« 47 des Geschäftsmanns Ehrenthal einzulassen. Fontane hingegen baut den Kontext des sonnigen Idylls in radikaler Weise um. Hier ist es allein noch Effi, die arglos die letzten Stunden jugendlicher Unbeschwertheit genießt. In Soll und Haben ist es allmählich an der Zeit, über Lenores Zukunft nachzudenken und zu sprechen; in Effi Briest ist hingegen bereits entschieden worden über die Zukunft der Tochter. Luise von Briest ist hier die treibende Kraft. Folglich tritt Briest erst am Ende des zweiten Kapitels in Erscheinung, unmittelbar nachdem die Würfel gefallen sind, nachdem Effi von ihrer Mutter ins Bild gesetzt worden ist. Briest, der keinen Vornamen hat und immer nur Ritterschaftsrat ist, dieser Briest, der sich stets dann ins vermeintlich ›weite Feld‹ flüchtet, wenn sich die Frage nach der eigenen Verantwortung stellen wird – dieser Briest ist das Gegenstück zum Baron von Rothsattel, der zu Beginn von Soll und Haben noch ganz in dem Bewusstsein lebt, als Familienoberhaupt eine glückliche Hand zu besitzen. Wie Eduard und Charlotte zu Beginn der Wahlverwandtschaften in der Mooshütte, führen Oscar und Elsbeth von Rothsattel in der Gartenlaube ein ernstes Gespräch über die Zukunft ihrer Tochter. Einigkeit besteht nicht nur darin, dass es beiden schwerfallen würde, auf Lenores Anwesenheit zu verzichten, sondern auch darin, dass Lenore in der Stadt eine bessere Erziehung erhalten könnte. So gehen Ottilie und Lenore entgegengesetzte Wege. Ottilie wird das städtische Mädchenpensionat verlassen, um sich fortan unter dem erzieherischen Einfluss Charlottes auf dem ländlich gelegenen Schloss weiterzuentwickeln; Lenore dagegen verlässt das Land, um fortan in der höfischen Umgebung der Stadt jene Erziehung zu erhalten, die für eine Tochter aus vornehmem Hause unabdingbar ist. Und so beschließt der Baron – wie damals Eduard in der Mooshütte – das so harmonisch und einvernehmlich verlaufende Gespräch mit seiner Gattin, indem er verkündet:»›Wir ziehen schon diesen Winter nach der Hauptstadt.‹/ Überrascht erhob sich die Baronin. ›Guter Oscar!‹ rief sie gerührt aus.« 48 Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften, Gustav Freytags Soll und Haben und Theodor Fontanes Effi Briest: alle drei Romane entfalten im Fortgang ihrer jeweiligen Handlung weit auseinander strebende
Heft
(2020) 109
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